Falls Papst Franziskus geglaubt haben sollte, dass mit der Aufnahme von Ermittlungen seitens der vatikanischen Justiz im "Fall Emanuela Orlandi" ein wenig Ruhe einkehren würde, sah er sich in den vergangenen Tagen eines Besseren belehrt: Die Spekulationen rund um das Verschwinden der Tochter eines Hofdieners von Johannes Paul II. im Jahr 1983 sind noch abenteuerlicher geworden, als sie es schon zuvor gewesen waren.

Pietro Orlandi, der Bruder von Emanuela, unterstellte Johannes Paul II. in italienischen TV-Sendern mehr oder weniger unverblümt, ein Kinderschänder gewesen und in das Verschwinden Manuelas verwickelt gewesen zu sein. Hohe Prälaten hätten ihm anvertraut, dass Pädophilie früher eine gängige Praxis im Vatikan gewesen sei, "auch auf der allerhöchsten Ebene" Und: Ihm sei auch von nächtlichen Ausflügen des Papstes mit zwei anderen polnischen Monsignori berichtet worden. Johannes Paul II. sei sicher nicht durch die Stadt gezogen, "um Häuser zu segnen".

Pietro Orlandi (Foto: Jänner 2023) glaubt an die Mitwisserschaft von Johannes Paul II.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire/Fabio Frustaci

Die Aussagen versetzten den gesamten Vatikan in Aufregung, Papst Franziskus eingeschlossen. "In der Gewissheit, die Gefühle der Gläubigen in der ganzen Welt zu deuten, richte ich einen dankbaren Gedanken an das Andenken des heiligen Johannes Paul II., der in diesen Tagen Gegenstand beleidigender und unbegründeter Schlussfolgerungen ist", erklärte Franziskus am Sonntag während des Gebets Regina Caeli auf dem Petersplatz in Rom.

"Falsch, unrealistisch, lächerlich"

Zuvor hatte sich schon der ehemalige Privatsekretär von Johannes Paul II., Kardinal Stanislaw Dziwisz, in Rage geredet: Er sprach von "schändlichen Unterstellungen, von Anfang bis Ende falsch, unrealistisch, lächerlich bis an die Grenze der Komödie". Der Direktor der vatikanischen Medien, Andrea Tornielli, bezeichnete die Aussagen Orlandis als "Medienmassaker".

Der 66-jährige Pietro Orlandi sucht seit Jahrzehnten beinahe verzweifelt nach der Wahrheit über den Verbleib von Emanuela. Seine Schwester, die heute 55 Jahre alt wäre, war am 22. Juni 1983 außerhalb des Kirchenstaats in Rom zum Musikunterricht gegangen. Auf dem Rückweg zu ihrem Elternhaus im Vatikan verschwand das Mädchen spurlos – auch ihre sterblichen Überreste sind nie aufgefunden worden, obwohl an vielen Orten, unter anderem auch im Grab eines Mafioso, nach ihnen gesucht wurde. Um ihr – vermutlich trauriges – Schicksal ranken sich unzählige Spekulationen, die von ihrem Bruder Pietro oft medienwirksam befeuert werden. Orlandi ist schon lange davon überzeugt, dass der Vatikan mehr wisse, als er zugebe.

Dass Emanuela Orlandi von pädophilen Kirchenmännern entführt worden sei, um sie dann für Sexspiele in der Kurie zu missbrauchen, ist unter den Verschwörungstheorien um ihr Verschwinden eine der populärsten. Das Problem: Niemand hat jemals belastbare Beweise für diese These vorgelegt.

Einvernahme bei neuen Ermittlungen

Das gilt auch für Pietro Orlandis jüngste Äußerungen. Nachdem der vatikanische Untersuchungsrichter Alessandro Diddi im Jänner dieses Jahres überraschend Ermittlungen in diesem ebenso spektakulären wie mysteriösen Fall aufgenommen hatte, wurden Pietro Orlandi und seine Anwältin Laura Sgrò vergangene Woche von der vatikanischen Justiz mehrere Stunden als Zeugen einvernommen. Laut eigenen Angaben wollten sie bei der Gelegenheit Dokumente und Namen möglicher Zeugen aus eigenen Ermittlungen weitergeben.

Doch was sie Diddi vorlegten, war offenbar äußerst dürftig. "Weder Pietro Orlandi noch die Anwältin zogen es in Erwägung, dem Untersuchungsrichter Namen oder nützliche Informationen über die Quellen dieser Aussagen und deren Glaubwürdigkeit zu liefern", erklärte der Präfekt des vatikanischen Dikasteriums für Kommunikation, Paolo Ruffini. "Für die vatikanische Justiz wäre es wichtig gewesen, die Quelle der von Orlandi berichteten Gerüchte zu kennen. Leider ist dies nicht geschehen."

Anders gesagt: Orlandi und Sgrò sind mit leeren Händen gekommen. Auch die italienische Justiz hatte sich mehrfach mit dem Fall befasst, die Ermittlungen im Jahr 2015 dann aber ergebnislos eingestellt. (Dominik Straub, 17.4.2023)