Ein Café an der Seepromenade, gelbe Schirme, große grüne Bäume; Menschen sitzen in der Sonne und genießen das Leben. Ein Mädchen in grünem Kleid trägt gelbe Luftballons spazieren, dahinter plaudern Menschen an einem Eisstand. Eine Idylle am Wasser.
Bis dato handelt es sich dabei nur um ein Rendering, also eine Visualisierung, der Seestadt Aspern. Das Café am See gibt es noch nicht, das Bild ist mehr als zehn Jahre alt und zeigt, wie die Seestadt einmal aussehen soll. Gleichwohl hat das Rendering bei vielen die Idee eines "multifunktionalen, urbanen, grünen und modernen Stadtteils" im Kopf entstehen lassen und sie bewogen, in die Seestadt zu ziehen, sagt die Stadtforscherin Cornelia Dlabaja, die zur Visualisierung von Stadtentwicklungsprojekten forscht.
Seit rund zehn Jahren wird an der Seestadt nun schon gebaut. Viele der bereits rund 10.000 Bewohnerinnen und Bewohner sind glücklich in dem neuen Stadtteil, doch es gibt auch Kritik am Vorzeigeprojekt. Zeit also für ein erstes Resümee: Funktioniert die Seestadt?
Alles, was man braucht
Die Pioniere hatten es noch schwer. Wer aber jetzt in die Seestadt zieht, findet sehr viel an Infrastruktur vor: Parks und Spielplätze, drei Schulen, sechs Kindergärten, eine öffentliche Bibliothek, viele Ärzte, Sportangebote (Boulderhalle, Laufbahn), Supermärkte, Drogerien, Bäckereien, Restaurants. Und weil der Fotograf, der mit dem STANDARD eine Runde drehte, danach gefragt hat: Ein bisschen Fortgehen kann man hier auch schon, in zwei Lokalen bekommt man abends einen Cocktail.
Das Restaurant Habibi & Hawara musste kürzlich aber wieder zusperren, weil die Kette in die Insolvenz geschlittert war. Das riesige Transparent am westlichen Seeufer hat noch niemand weggeräumt. Für die Fläche im Seeparkquartier dürfte sich aber bald wieder ein neuer Lokalbetreiber finden.
Viele der Geschäftsflächen werden von einer eigenen Einkaufsstraßen-Gmbh an- und weitervermietet, das soll den optimalen Shopmix garantieren. Auch sonst soll die Seestadt als gut durchmischte Stadt der kurzen Wege alle Funktionen des täglichen Bedarfs vereinen – Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und vieles mehr. Um das zu erreichen, fließt zweifellos sehr viel Hirnschmalz in die Planung der Seestadt; sieht man sich die diversen Planungsunterlagen an, etwa jene für die künftigen "Seeterrassen" und die "Rote Saite" im Nordteil, dann muss man unweigerlich zu diesem Schluss kommen. Eine "Smart City in der Stadt" sei die Seestadt, schrieb kürzlich auch das Magazin Time, als es Wien einen der "world’s greatest places 2023" nannte.
Viele Menschen verlassen in der Früh zwar die Seestadt, erstaunlich viele kommen aber morgens hier auch an. Man merkt, dass sich Firmen ansiedeln, wie etwa Hoerbiger im Jahr 2016. Im produzierenden Segment hat sich mittlerweile ein Pharma- und Biotech-Cluster gebildet. Darauf will man auch weiterhin setzen, sagt Gerhard Schuster, Vorstand der Seestadt-Entwicklungsgesellschaft Wien 3420, dem STANDARD. Dass mehrere Tausend Quadratmeter an Büros leerstehen, bereitet ihm keine schlaflosen Nächte.
Beim HoHo Next, dem kleineren Bauteil des Holz-Hybrid-Turms HoHo Wien, der seit Jahren der Vermietung harrt, zeichnet sich laut Schuster eine gesundheitliche Nutzung ab, nämlich ein Therapiezentrum. Und ein weiteres Büroprojekt im Seeparkquartier, das gerade in Bau ist, wird ein Gesundheitszentrum.
Apropos Seeparkquartier: Dabei handelt es sich um das "Geschäftsquartier" mit einem Hotel (im HoHo-Turm, dem "Wahrzeichen" der Seestadt), Büros und Geschäften. Doch das Quartier sorgte für negative Schlagzeilen: ein paar Bäume, fünf Brunnen – ansonsten wurde bei der Oberflächengestaltung auf Asphalt gesetzt. Das stieß auf heftige Kritik. Wobei das laut Jakob Kastner, von 2015 bis 2020 als Projektmanager in der Wien 3420 tätig, schon früher anfing: Bei der Gestaltung der Maria-Tusch-Straße sorgten die "wassergebundenen Wegedecken", sprich der gestampfte Schotter, der hier Bäume und Sträucher umgibt, bereits für Unmut. Im Seeparkquartier sollten zwar ein "urbaner Stadtraum" mit Plätzen für Feste und ein Markt sowie Außenbereiche der Lokale entstehen. Doch der viele Asphalt sorgte für Kopfschütteln.
Versiegelt, entsiegelt
Immerhin wurde rasch reagiert: 2022 wurde der östliche Teil des Quartiers wieder teilentsiegelt und begrünt, jetzt ist der westliche Teil dran. Laut Dlabaja ist das ungewöhnlich, "weil Plätze normalerweise erst nach 20 Jahren adaptiert werden und nicht zwei Jahre nach Fertigstellung". Hier ging es, weil zuerst die 3420 zahlte, nun großteils die Stadt.
Aber warum nicht gleich so? Diese Frage stellen sich hier viele. Für Johannes Kößler, Inhaber der Buchhandlung Seeseiten, ist sie letztlich aber nicht wichtig – "sondern dass umgedacht wurde und nun umgebaut wird".
Umgebaut hat Kößler auch selbst, seine Buchhandlung konnte er vergrößern, weil ein Geschäftslokal daneben frei wurde. Er wohnt außerhalb der Seestadt, fährt meist mit dem Fahrrad her und liefert damit auch Bücher aus. An der Seestadt gefällt ihm besonders, dass er sich hier gut einbringen kann und Ansprechpartner hat, wenn er sie braucht – etwa das Stadtteilmanagement am Arendt-Platz.
Nachbarschaft im Fokus
Hier im Pionierquartier, dem ältesten Teil der Seestadt, merkt man den Häusern und dem öffentlichen Raum an, dass sich die Menschen gut eingelebt haben. Zu Beginn seien 1000 Menschen gleichzeitig angekommen, erinnert sich Dlabaja, darunter viele Jungfamilien. "Sie sind zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden", sagt die Stadtforscherin. Anfangs habe man Facebook-Gruppen gegründet und Excel-Listen darüber erstellt, wer welche Fähigkeiten und Werkzeuge hat. Bis heute hat das Quartier eine dichte Nachbarschaft mit vielen lokalen Initiativen.
Auch für Buchhändler Kößler zählt das mit viel Aufwand betriebene "Community-Building" zu den großen Pluspunkten. Es gibt Initiativen wie das Nachbarschaftsbudget, mit dem gute Ideen gefördert werden. Zudem haben sich in der Seestadt viele Vereine formiert, etwa Gemeinschaftsgartenvereine wie Ackerhelden oder Kraut & Blüten. Bei Letzterem war der Mit-Autor dieser Zeilen als – Disclaimer! – Seestadt-Bewohner eine Zeitlang selbst aktiv.
Viel Grün, trotz allem
Einer der Vereine nennt sich Seestadtgrün und hat es sich zur Aufgabe gemacht, eigenmächtig zu begrünen. Laut Raumplaner Kastner ist das auch der erfolgversprechendere Weg; die Mühlen der Stadt mahlen langsam.
Grundsätzlich sollte hier zudem nicht unerwähnt bleiben, dass das besonders dichte Seeparkquartier Erstbesucherinnen einen trüglichen Eindruck der Seestadt geben kann. Verglichen mit ähnlich dicht gebauten innerstädtischen Bezirken ist es sehr grün hier, was auch an üppig begrünten, bauplatzübergreifenden Freiräumen liegt. Die Innenhöfe sind also nicht nur für die eigenen Bewohnerinnen gedacht, sondern können auch von Nachbarn anderer Gebäude oder sogar öffentlich genutzt werden. Dieses Prinzip wiederholt sich in der Seestadt immer wieder, erklärt Dlabaja. Ein besonders gelungenes Beispiel dafür ist die Grünfläche inmitten der fünf Baugruppenhäuser neben dem Hannah-Arendt-Park.
Dies und die breiten Gehsteige sowie die Verkehrsberuhigung machen die Seestadt zu einem Paradies für Familien. "Ohne Kinder wären wir nicht da", sagt eine Mutter von zwei Volksschulkindern dem STANDARD. An heißen Sommertagen wird der See von Kindern und jungen Erwachsenen regelrecht belagert; weil es auch schon tragische Badeunfälle gab, wurden kürzlich Rettungsringe montiert.
Was vielen im Sommer aber noch fehlt, ist Schatten. Die Bäume in der ganzen Seestadt sind noch eher mickrig.
Welche Wünsche hört man sonst noch? "Mehr Flächen für Sport", ist eine Forderung. Ein Hallenbad ist in Planung. An der Seestadtstraße wird bald am ÖFB-Trainingszentrum gebaut, hier soll es dann auch ein Angebot für die Bevölkerung geben. Und auch gastronomisch wächst die Seestadt bald weiter. Neben dem erwähnten Habibi-Nachfolger wird nämlich auch im Büroprojekt "Robin", an dem an der Ecke Sonnenallee/Maria-Tusch-Straße gebaut wird, ein Gastrobetrieb einziehen.
Nordteil als Versprechen
Und grundsätzlich ist die Seestadt bei weitem noch nicht fertig – und es wird bestimmt noch weitere zehn Jahre an ihr gebaut werden, eher mehr. Nördlich des Sees entstehen als Nächstes die "Seeterrassen" mit einer Shop- und Lokalmeile in einem Arkadengang direkt an der Seepromenade. Spätestens dann könnte das eingangs erwähnte Rendering seine Entsprechung in der Realität bekommen.
Vom See hinauf Richtung Aspern Nord ist nochmals eine Einkaufsstraße samt "Co-kreativer Meile" geplant, die sich als das eigentliche Handelszentrum etablieren sollte. Pünktlich vor der nächsten Wiener Wahl im Herbst 2025 dürfte dort die neue Straßenbahnlinie 27 verkehren, die die Entwicklungsgebiete Berresgasse, Heidjöchl und Seestadt verbinden soll. Auf die Linie 25, die aus dem Süden kommt, wird man aber noch länger warten müssen. Und schmerzlich vermisst wird von vielen Bewohnern außerdem eine Schnellverbindung in die anderen transdanubischen Zentren Kagran und Floridsdorf.
Auch Dlabaja kritisiert die mangelnden Querverbindungen im 22. Bezirk und erzählt von einem Umstand, der vielen Bewohnerinnen der Seestadt bekannt vorkommen dürften: Wer öffentlich zu Ikea Nord fahren will, der sich ebenfalls im 22. Bezirk befindet, braucht länger als zum Stephansplatz.
Haltezone Gehsteig
In der Seestadt selbst ist in puncto Verkehrspolitik aber auch nicht alles eitel Wonne. Es gibt mehrere Sammelgaragen, auch als Hochgaragen, die die Stadt indirekt beleben sollen – indem die Menschen das Auto nicht im eigenen Tiefgeschoß parken, sondern draußen ein paar Schritte gehen müssen. Die Bezirkspolitik grätscht aber immer wieder rein und setzt Stellplätze an der Oberfläche durch, wie etwa im Quartier "Am Seebogen".
Dass der dortige Gehweg entlang der U2-Trasse bei der Barbara-Prammer-Allee nun von Stellplätzen unterbrochen wird, ist reichlich absurd. Die Grünen setzen sich gerade dafür ein, dass diese Stellplätze wieder verschwinden. "Harte Verhandlungen" mit dem Bezirk seien das, sagt Schuster.
Und auch die breiten Gehsteige haben eine Kehrseite: Sie sind nur drei Zentimeter hoch, um möglichst barrierefrei zu sein. Das wird von Autofahrern aber häufig als Einladung missverstanden, auf dem Gehsteig zu halten. Hunderte Male am Tag ist das zu beobachten; die Nonchalance, mit der manche Autofahrer die Gehsteige befahren, ist bisweilen atemberaubend und am allerbesten an Sonntagen beim Hannah-Arendt-Platz zu beobachten. Da kommen immer wieder Menschen von außerhalb mit dem Auto zur Apotheke, zur Bäckerei oder zur Pizzeria. Weil die Stellplätze dann von Dauerparkern belegt sind, halten sie am Gehsteig. Ein Fehler im System.
Doch die Szene zeigt: Auch drumherum ist man oft froh über die Seestadt, wie ein Rundgang durch die westlich angrenzende Einfamilienhaussiedlung beweist. Anfangs seien sie und ihre Nachbarn wenig angetan gewesen, sagt eine Frau, die mit ihrem Hund unterwegs ist. "Die vielen Menschen, das wollten wir überhaupt nicht – selbst bei der U-Bahn waren wir skeptisch." Jetzt sei sie glücklich über das vielfältige Angebot ums Eck und besucht regelmäßig einen Volkshochschulkurs sowie diverse Lokale in der Seestadt.
Zum Einkaufen nutzt sie dennoch das Auto, anders als die meisten Bewohnerinnen der Seestadt. Und damit hat das Stadtentwicklungsgebiet etwas geschafft, was viele für unmöglich hielten: dass jemand im 22. Bezirk auf ein eigenes Auto verzichtet. Allein dafür muss man der Seestadt und ihren Planern dankbar sein. Und alles, was es sonst noch zu kritisieren gibt, ist wahrlich ein Jammern auf hohem Niveau. (Martin Putschögl, Bernadette Redl, 18.4.2023)