Angst dient auch der Unterhaltung, sie ist das Salz in der Suppe, weiß Katharina Domschke, eine der international führenden Angstforscherinnen. In ihrem aktuellen Buch "Angst in der Kunst – Ikononografie einer Grundemotion" beschäftigt sie sich an vielen Stellen mit dieser seltsamen Freude am Fürchten. Für diese Mischung aus Angst, Wonne und zuversichtlicher Hoffnung gibt es sogar einen Fachbegriff: die Angstlust. Wir haben mit der Wissenschafterin über echte Ängste, krankhafte Furcht und die Begeisterung für den kleinen Thrill gesprochen.

STANDARD: Was ist Angst? Wie funktioniert sie, und wozu brauchen wir sie?

Domschke: Angst ist wie Wut, Freude oder Liebe eine Grundemotion des Menschen. Ohne Angst sind wir keine ganzen Menschen. Sie ist überlebensnotwendig, denn sie funktioniert als Alarmsystem. Angst ist auch eine körperliche Reaktion, die uns im Angesicht der Gefahr in die Lage versetzt, zu kämpfen, zu fliehen oder sich tot zu stellen, um das Überleben zu sichern.

Der spielerische Umgang mit Angst hilft uns, echter Gefahr ins Auge zu blicken.
Foto: Mara Fischer

STANDARD: Sind Angst und Furcht dasselbe?

Domschke: Das ist eine uralte philosophische Diskussion. Søren Kierkegaard, Sigmund Freud und Martin Heidegger haben sich schon damit befasst. Der Diskurs hat sich in der Psychiatrie und Psychologie fortgesetzt, und es herrscht einhellig die Meinung, dass Furcht etwas Gerichtetes ist. Furcht bezieht sich immer auf ein bestimmtes Objekt, auf eine bestimmte Situation. Das heißt, Phobien sind eigentlich Furchterkrankungen, die sich immer auf eine bestimmte Situation wie Enge, im Fachjargon Klaustrophobie, oder ein Objekt wie zum Beispiel eine Spinne im Sinne einer Arachnophobie beziehen.

STANDARD: Angst dagegen ist undefinierbar?

Domschke: Sie ist ungerichteter, frei flottierend und geht tiefer als die sichtbare Oberfläche. Angst bezieht sich nicht auf ein bestimmtes Objekt. Das kann sich in Sorgen ausdrücken, in Bangen oder in Panikattacken. Die entsprechende Erkrankung ist dann auch nicht eine Phobie, sondern eine generalisierte Angststörung oder eine Panikstörung.

STANDARD: Es gibt viel Anlass zur Sorge momentan: zuletzt die Pandemie, jetzt die Inflation, der Krieg. Leben wir in einer Zeit der Angst?

Domschke: Ich meine, dass es noch viel schlimmere Zeiten gab in der Geschichte der Menschheit. Es bestand schon mehr Anlass zur Angst und zur Furcht. Und die Menschheit ist ziemlich resilient. Wir können gut mit widrigen Lebensumständen umgehen, dazu ist der Mensch angelegt. Die Frage ist, ob das "Zeitalter der Angst" nicht auch etwas von Medien Gemachtes ist, von Podcasts und von Twitteraccounts?

STANDARD: Ihre Antwort auf diese Frage?

Domschke: Wir wissen, dass die Angst in der Corona-Pandemie wesentlich korreliert hat mit dem Konsum von sozialen Medien. Das hat nichts zu tun mit gerichteten, klaren und emotionsarmen Informationskanälen. Angst ist also etwas, was im Volk durchaus auch gesteuert werden kann. Da muss man schon auch aufpassen. Aber wir leben sicherlich nicht in einem Zeitalter der Angst im pathologischen Sinn. Auch in Bezug aufs Klima wird Angst hin und wieder instrumentalisiert.

Furcht richtet sich gegen etwas Konkretes wie gefletschte Hundezähne.
Foto: Rosa Lisa Rosenberg

STANDARD: Das heißt, Angst ist auch ein politisches Mittel, das von jeder Seite eingesetzt wird. Angst ist auch ein Machtinstrument.

Domschke: Sie kann eingesetzt werden, um bestimmte Themen in der Gesellschaft zu pushen. Greta Thunberg sagt: "I want you to panic!" Da wird Angst eingesetzt, um etwas in der Gesellschaft ins Bewusstsein zu bringen. Und sie ist auch ein Herrschaftsinstrument. Diktaturen arbeiten zum Beispiel viel mit Angst.

STANDARD: Was hat es mit dem Begriff der Resilienz auf sich? Er kommt jetzt oft als Modewort daher.

Domschke: Resilienz ist die grundsätzliche Eigenschaft von Menschen, aber auch von Tieren und Pflanzen, sich wieder aufzurichten. Es ist nicht so, dass wir dauerhaft verformt werden durch Stürme, durch Lebensereignisse, durch Traumata. Wir springen buchstäblich immer zurück in unsere ursprüngliche Form. Das bedeutet, dass man in der Lage ist, mit Lebensereignissen so umzugehen, dass man keinen Schaden nimmt. Das ist eine Grundeigenschaft des Menschen.

STANDARD: Warum können wir, ohne Schaden zu nehmen, Lust an der Angst empfinden?

Domschke: Die alten Griechen haben das Stilmittel des Oxymorons geprägt. Es bedeutet nichts anderes als süß-sauer. Man hat schon immer mit den Gegensätzen gespielt. Sauer ist an sich etwas Negatives, kann aber auch als süß empfunden werden. Saure Zuckerln zum Beispiel. Dann gibt es da noch die Geisterbahn, die Achterbahn, Bungee-Jumping – alles Nervenkitzel und Mutproben. Da geht es um das Faszinosum der Angst, um das Spiel mit der Angst. Sie ist dann wie das Salz in der Suppe. Ein seltsames Phänomen, das aber dadurch erklärt werden kann, dass da eine Spannung entsteht, auf die mit Sicherheit die Entspannung folgt.

STANDARD: Wie bekommt man Lust auf Angst?

Domschke: Die Lust an der Angst kann man nur empfinden, wenn man ganz sicher sein kann, dass etwas gut ausgeht. Wir sagen uns: "Achterbahn, das wird schon halten, weil das gute Technik ist." Und diese Spannung kann zu einem entlastenden Wohlgefühl führen, wenn sie nachlässt. Das kann eine Art Reinigung sein, eine Katharsis. Es kann der Angst auch die Bedrohung nehmen. Beispielhaft, denn wir haben ja alle Angst im Leben. Aber wenn wir erfahren, dass sie bewältigbar ist und wieder aufhört, legt das nahe, dass auch andere Ängste wieder weggehen können.

STANDARD: Können wir das lernen?

Domschke: Ja, das ist kontraphobisches Verhalten. Man geht gegen die Angst an, indem man sich in die Angst bewegt. Man tritt sozusagen die Flucht nach vorne an. So wie Kinder sich mörderisch freuen, wenn sie eine Mutprobe bestanden haben. Wichtig ist bei der Angstlust, dass immer ein Geländer da ist. So hat es auch der Philosoph Jean-Jacques Rousseau beschrieben: "Man kann wandern gehen und dabei einen wohligen Schwindel empfinden. Aber nur, wenn da auch ein Geländer ist."

STANDARD: Umgelegt auf einen Gruselfilm oder Kriminalroman: Wo ist unser Geländer?

Domschke: Das Wissen, dass alles in diesem Rahmen bleibt. Der Mord in einem Buch, der Horror im Fernsehapparat. Das ist das, was uns hilft zu abstrahieren.

STANDARD: Sie haben gerade ein Buch über die Darstellung von Angst in der Kunst herausgebracht. Um welche Form der Angst geht es meist in der Kunst?

Domschke: Ich habe für jede Form der Angst Beispiele in der Kunst gefunden. Die wenigsten Künstlerinnen und Künstler befassen sich mit der pathologischen Angst. Am meisten wird Angst thematisiert, die jeder von uns kennt: Todesangst, Angst vor Flucht, vor realen Gefahren, Angst im dunklen Wald, Torschlusspanik ... Unter anderem aber auch die Angstlust.

Wir gruseln uns gerne in dem Wissen, dass alles in einem Rahmen bleibt.
Foto: Linda Nasdalack

STANDARD: Wo kommt Angstlust in der Kunst vor?

Domschke: Häufig in Kinderbüchern, oft Gruselbücher, die dann mit schauerlichen Fantasiegestalten illustriert werden. Da wird mit verschiedensten Formen der Angst gespielt, um die Darsteller zu heilen. Wir alle kennen die Protagonisten, den Hasenfuß etwa oder die Memme.

STANDARD: Sprechen wir von der gleichen Angst, wenn wir über Flugangst reden und die Lust, mit einem Karussell zu fliegen?

Domschke: Na ja, die Flugangst ist meistens kein Spiel mit der Angst. Das geht klar in Richtung Erkrankung, weil diese Angst den Menschen im alltäglichen, beruflichen oder sozialen Leben einschränkt. Flugangst kann zudem aus verschiedenen Gründen entstehen. Aus Angst vor Kontrollverlust, das kann Höhenangst sein oder auch Platzangst in der Economy-Class. Die Angst, die wir dagegen im Karussell empfinden, ist ganz klar eine Angstlust.

STANDARD: Obwohl es um dieselbe Sache geht, in diesem Fall ums Fliegen, empfinden wir das in einem Fall befreiend und in einem anderen Fall als angsteinflößend?

Domschke: Wenn ich das freiwillig tue, wie Bungee-Jumping, ist das eine Kopfsache. Aber die meisten Menschen, die Angst haben, suchen diese ja nicht, sondern halten sie nur aus, weil es gerade nötig ist. Die Angstlust wird immer aktiv gesucht, die pathologischen Formen natürlich nicht. Da werden Angstsituationen möglichst vermieden.

STANDARD: Würden Sie ausschließen, dass jemand mit echter Flugangst trotzdem gerne Karussell fährt?

Domschke: Das kann absolut sein. Aber im Karussell weiß er, was kommt, und im Flugzeug nicht – das könnte ja eventuell doch noch abstürzen.

STANDARD: Hat Angstlust eine konkrete Funktion für den menschlichen Organismus, für die Psyche?

Domschke: Man lernt mit der Angst umzugehen, wenn man weiß, wie sie sich anfühlt. Und man erfährt, wie sie wieder aufhört. Man lernt, kontrolliert mit ihr umzugehen, mit den Symptomen und Körperreaktionen, die man dann hat. Das heißt, man gewöhnt sich ein bisschen an die Angst, man habituiert. Das hilft in einer anderen Lebenssituation, wo die Angst dann unkontrolliert auftritt.

STANDARD: Würde eine Welt ohne Angst insgesamt besser aussehen?

Domschke: Das wäre eine fürchterliche Welt! Wenn ich keine Angst vor Krieg habe, keine Angst vor dem Klimawandel, wenn ich keine Angst vor Schuld habe, keine Angst, Menschen zu verletzen, das wäre doch schrecklich. Angst ist auch ein moralischer Kompass. Ohne Angst wäre die Welt ein grausamer Ort. (RONDO Exklusiv, Sascha Aumüller, 27.4.2023)