Indiens Höchstrichter könnten erneut Geschichte schreiben. Nachdem vor fünf Jahren Homosexualität legalisiert wurde, entscheiden vier Richter und eine Richterin, ob nun auch die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren erlaubt sein muss. Indien wäre das 35. Land weltweit und nach Taiwan erst das zweite Gebiet in Asien, das der LGBTIQ-Gemeinschaft dieses Recht zugesteht. Am Dienstag begannen die Anhörungen der Anträge vor dem Höchstgericht.

VIDEO: Im Jahr 2018 kippte Indiens Oberster Gerichtshof das Verbot von Homosexualität
DER STANDARD

Die Zeichen auf eine Gleichstellung stehen nicht schlecht. Homosexualität und Geschlechtervielfalt wird in der indischen Gesellschaft sichtbarer, in großen Städten finden Pride-Paraden statt. In einer Umfrage des Pew Research Center aus dem Jahr 2020 sagten 37 Prozent der Befragten, dass Homosexualität akzeptiert werden sollte. Im Jahr 2014 sagten das nur 15 Prozent.

Demonstrierende verlangten bei einer Kundgebung im Jänner in Neu-Delhi die Gleichstellung der Ehe.
Foto: AP

Regierung und Religionen gegen Gleichstellung

Doch der Widerstand gegen die Öffnung der Ehe bleibt groß. Die indische Regierung legte ihre Ansicht in Form eines 102-seitigen Dokuments dar. Darin bezeichnet sie die Anträge der LGBTIQ-Vertreterinnen und -Vertreter als "hauptsächlich urbane Elitenansichten". Diese würden die "religiösen und sozialen Werte" des Landes infrage stellen. Eine Gleichstellung der Ehe würde de facto eine "gesetzliche Neuformulierung eines ganzen Rechtsgebiets" bedeuten. Deshalb sei der Supreme Court auch gar nicht zuständig, wie auch der Anwalt der Regierung am Dienstag bekräftigte, sondern alleine das indische Parlament.

Die Vertreter der großen Religionen zeigen sich ebenfalls ungewöhnlich geeint, wenn es um die Opposition zur Ehe für alle geht. Hindus, Muslime, Jain, Sikh und Christen beharren darauf, dass eine Ehe nur den Zweck der Fortpflanzung, nicht den Zweck der Erholung hat. Was im ursprünglich englischen Original ein besserer Slogan ist: "For procreation, not recreation."

Im Supreme Court wird ein Stück der Zukunft der LGBTIQ-Community Indiens entschieden.
Foto: Reuters / B Mathur

Alltägliche Hürden

Jenen Paaren, die für sich – und alle LGBTIQ-Personen des Landes – die Ehe erreichen wollen, geht es laut Antrag "nicht um das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, sondern um das Recht, als Gleichgestellte anerkannt zu sein". Und dabei vor allem um rechtliche Sicherheit im Alltag. So erzählen Kavita Arora und Ankita Khanna – zwei Frauen, die seit mehr als 20 Jahren ein Paar sind –, dass ein gemeinsames Bankkonto, eine geteilte Gesundheitsvorsorge oder ein zusammen gekauftes Haus jedes Mal ein Kampf gegen das System bedeuten.

Im Interview mit der BBC beschreiben sie den Moment, in dem sie beschlossen haben zu heiraten: 2020 war Ankitas Mutter im Krankenhaus, weil sie eine Notoperation benötigte. Kavita hatte sie begleitet, konnte aber keine Einverständniserklärung unterzeichnen, da sie weder die Tochter noch die Schwiegertochter war. Der Antrag auf Eheschließung wurde abgelehnt, das Paar ging – wie 17 weitere – vor das Höchstgericht.

Ex-Generalstaatsanwalt für Öffnung

Der Supreme Court beschloss im Jänner, alle Anträge zu dem Thema zusammenzufassen und ein für alle Mal zu entscheiden, ob die indische Verfassung auch gleichgeschlechtlichen Paaren eine Eheschließung ermöglicht. Für die Antragsteller ist das definitiv der Fall, da die Verfassung allen Bürgerinnen und Bürgern die freie Wahl von Ehepartner oder -partnerin zugesteht. Gleichzeitig sei eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung verboten.

Ex-Generalstaatsanwalt Rohatgi über gleiche Rechte für alle.
Republic World

Mukul Rohatgi, ehemaliger indischer Generalstaatsanwalt und nun Vertreter der gleichgeschlechtlichen Paare, sprach bei der Anhörung am Dienstag davon, dass die Verfassung alle Menschen als gleichberechtigt ansehe. Dadurch sei das Recht auf ein "würdevolles Leben" abzuleiten, und dieses beinhalte das Recht, seinen Ehepartner frei zu wählen, seine Freunde frei zu wählen oder seine Meinung frei zu äußern.

Psychiater: "Keine Krankheit"

Unterstützung erhalten die gleichgeschlechtlichen Paare auch von der indischen Gemeinschaft für Psychiatrie (IPS), die 7.000 Psychiaterinnen und Psychiater vertritt. In einem Statement in der vergangenen Woche hielten die Fachleute noch einmal fest, dass "Homosexualität keine Krankheit sei", Diskriminierung aber sehr wohl zu "mentalen Gesundheitsproblemen führen" könnte.

Das Höchstgericht hört sich bis Donnerstag die Argumente beider Seiten an. Eine Entscheidung wird in rund zwei Wochen erwartet. Bereits am Dienstag stellten die Richter aber klar, dass es sich um einen komplexen Fall handle – laut Meinung des Gremiums könne man den Begriff von "Mann" und "Frau", wie er im Ehegesetz festgeschrieben steht, nicht nur von den jeweiligen Geschlechtsteilen abhängig machen. Gleichzeitig hielten die Höchstrichter auch fest, dass sie nicht an den jeweiligen religiösen Gesetzen rütteln werden. Das heißt, dass sie nicht darüber urteilen, ob etwa ein Hindu nach einer Eheschließung mit einem gleichgeschlechtlichen Hindu auch weiterhin Hindu bleiben müsse. (Bianca Blei, 19.4.2023)