Washington – Andrew Lester, 84, fühlte sich "zu Tode erschreckt", als es Donnerstagabend an seiner Tür klingelte. An der Pforte stand Ralph Yarl, 16, Klarinettist seiner Schulband, laut Freunden schüchtern, eifrig und lustig. Yarl wartete dort einige Minuten, angeblich soll er auch an einer Terrassentüre gerüttelt haben. Worte wurden keine gewechselt, dafür öffnete Lester dann die Türe und schoss Yarl ins Gesicht. Als dieser zu Boden fiel, schoss Lester noch einmal und traf seinen Arm. Danach schloss er die Türe, im festen Glauben, sich verteidigt zu haben. Nachbarn alarmierten schließlich die Polizei, nachdem der blutende Teenager an mehreren Türen geklingelt hatte.

Die Türe und die Terrassentüre, vor denen Ralph Yarl wartete – bevor auf ihn geschossen wurde.
Foto: AP / Charlie Riedel

Yarl überlebte, am Dienstag durfte er sogar schon das Spital verlassen. Ärztinnen und Ärzte geben Hoffnung auf eine vollständige körperliche Genesung – die psychischen Folgen dürften aber beträchtlich sein. Der 16-Jährige hatte, wie sich später herausstellte, an der falschen Türe geklingelt, um dort seine beiden jüngeren Brüder abzuholen. Die Anschrift Lesters endet auf "115th Terrace", die Geschwister warteten an einer sonst gleichlautenden Adresse an der "115th Street". Der Schütze befindet sich weiterhin in Freiheit, gegen ihn soll Anklage erhoben werden. Ein Staatsanwalt in Kansas City, Missouri, sagte am Montag, er gehe von einer "ethnischen Komponente" aus. Lester ist weiß, Yarl ist Afroamerikaner.

Umstrittene Gesetze

Fast gleichzeitig ereignete sich im ländlichen New York ein ähnlicher Fall. Die 20-jährige Kaylin Gillis wurde erschossen, nachdem das Auto, in dem sie gemeinsam mit Freunden zu einer Party unterwegs war, in die falsche Einfahrt eingebogen war. Kevin Monahan, 65, hatte auf das Fahrzeug gefeuert, das sich in Richtung seines Hauses bewegte. Der Lenker des Autos machte kehrt und hielt erst fünf Meilen später wieder an. Gerufene Einsatzkräfte konnten nur noch den Tod der jungen Frau feststellen. Der Fall ist anders gelagert als jener von Ralph Yarl – Schütze und Opfer sind weiß, ein rassistischer Hintergrund ist also nicht anzunehmen. Das zeitliche Zusammenfallen hat in den USA aber dennoch zu einer neuen Diskussion über das Waffenrecht geführt. In die Debatte gerät dabei ein besonders umstrittener Teil der Gesetzgebung: die sogenannten Stand-Your-Ground-Gesetze – und die Kultur, die sie erzeugen.

Ralph Yarl an der Klarinette.
Foto: Reuters / Lee Merritt

Im Kern dieser Gesetze, die in den vergangenen Jahrzehnten in 38 Bundesstaaten eingeführt wurden, geht es darum, was ihre Fürsprecher als das Recht auf Selbstverteidigung sehen. Wer an einem Ort, an dem er sich rechtmäßig aufhält, einen Angriff auf sich selbst wahrnimmt, muss nicht zuerst versuchen, sich in Sicherheit zu begeben – so wie es Gesetze davor vorgesehen hatten –, sondern darf gleich Gewalt anwenden, auch potenziell tödliche. Was genau eine Bedrohung ausmacht, ist dabei offen.

Eine Frage der Kultur

Tatsächlich würde eine Berufung auf Stand-Your-Ground-Gesetze wohl in beiden Fällen nicht helfen. Die entsprechenden Regeln sind in Missouri eher schwach formuliert, im Bundesstaat New York gibt es sie im engeren Sinne gar nicht. Allerdings haben beide Staaten ein verwandtes Gesetz, die sogenannte Castle-Doktrin, die zum Tragen kommen könnte. Sie sieht sehr ähnliche Regeln vor, bezieht diese aber nicht auf den gesamten öffentlichen Raum, sondern nur auf das eigene Heim. Allein: Auch hier muss nachgewiesen werden, dass tatsächlich eine Bedrohung existiert habe, sagen Fachleute in US-Medien. Nur zu behaupten, man habe sich bedroht gefühlt – das reiche, wohl auch vor einer wohlgesinnten Geschworenenjury, vermutlich nicht.

Ob Lester und Monahan, die beiden Schützen, dies aber gewusst haben – das ist zu bezweifeln. Beide sollen sich nach ihren Taten eher unkooperativ verhalten und mit ihrer Selbstverteidigung argumentiert haben – und beide dürften nicht vermutet haben, mit ihrem Handeln das Gesetz zu brechen. Die Pro-Waffen-Lobby und viele konservative Politiker bauen seit Jahren ein Bild der ständigen Bedrohung auf, wenn sie für den Kauf von Schusswaffen plädieren, sie in Wahlwerbespots vorzeigen und gegen drohende Verbote oder Waffenschein-Bestimmungen wettern. Nicht selten gehen damit auch Botschaften einher, die rassistische Grundeinstellungen stärken. Die Lobby und ihre Politiker sind es auch, die maßgeblich an der Durchsetzung von Stand-Your-Ground-Gesetzen beteiligt waren und diese stets bewerben. Die Folge ist ein Klima, in dem die Pistole locker sitzt, argumentieren Gegner – auch dann, wenn ihr Einsatz nicht wirklich von den Regeln gedeckt sein sollte. (Manuel Escher, 18.4.2023)