Tom Segev ist seit Jahrzehnten einer der prominentesten Stimmen des linken Israel und gehört zu jenen Historikern, die die etablierte Geschichtsschreibung Israels und des Zionismus hinterfragen. In seinem jüngsten Buch Jerusalem Ecke Berlin (Siedler, München 2022) erzählt er die Geschichte anhand seines eigenen Lebens. Segev eröffnet am Mittwoch als Hauptredner das Jüdische Filmfestival Wien, das bis zum 3. Mai läuft.

STANDARD: Sie gehören zu jenen, die Israels Demokratie durch die Justizreform der Regierung Netanjahu akut bedroht sehen. Aber zeigt nicht gerade die breite Protestbewegung die Stärke der Demokratie?

Segev: Es ist ermutigend, zu sehen, wie jedes Wochenende 200.000 Menschen auf die Straße strömen, um die Demokratie zu retten. Aber gerade das zeigt, dass etwas falsch gelaufen ist mit der Demokratie.

STANDARD: Und zwar was? Ist es nur die Justizreform?

Segev: Es regiert eine Koalition, wie wir sie noch nie hatten. Sie hat ungefähr 150 verschiedene Gesetzesvorschläge eingebracht, die gemeinsam die Grundwerte der israelischen Gesellschaft ändern. Israel war niemals eine ideale Demokratie, aber sie hat funktioniert, obwohl sie seit über 50 Jahren die Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung verletzt und sie unterdrückt. Das ist eigentlich ein Widerspruch.

"Israel war niemals eine ideale Demokratie, aber sie hat funktioniert", sagt Segev.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Die Justizreform schränkt die Macht des Höchstgerichts ein. Was ist dran am Argument, dass sich dieses über die Jahre Rechte angemaßt hat, die in keiner Verfassung stehen?

Segev: Das Oberste Gericht hat sich über die Jahre große Mühe gegeben, Rechte von Individuen und Minderheiten zu schützen. Daraus ist allmählich ein liberaler Kodex entstanden. Aber das war alles nur für Juden. Das Gericht war zwar immer bereit, Beschwerden der Palästinenser anzuhören, hat aber im Großen und Ganzen die Besatzung im Westjordanland bestätigt. Wenn seine Entscheidungen mit einer Stimme in der Knesset aufgehoben werden können, dann gibt es keine Gewaltenteilung mehr.

STANDARD: Aber Wahlen wird es weiter geben. Und eine zukünftige Regierung könnte ja die Reform zurücknehmen.

Segev: Oder auch nicht. Sie könnte sich über das schöne Erbe freuen, das sie von der früheren Regierung erhalten hat. Wenn einmal die Demokratie zerstört ist, ist es sehr schwer, sie wieder aufzubauen.

STANDARD: Was ist die Motivation der Regierung für diese Justizreform? Geht es um Macht?

Segev: Nein, dann wäre es viel einfacher. Es ist eine rechtsradikale, rassistische, antidemokratische Ideologie am Werk. Ein Teil der Regierung will eine fast diktatorische Theokratie. Das sind ideologische Auseinandersetzungen um Ideen und Lebensweisen, um Identitäten, Gefühle und um Weltanschauung und Grundwerte. Das ist viel interessanter als reine Parteipolitik.

STANDARD: Und Netanjahu selbst?

Segev: Netanjahu teilt diese Weltsicht nicht, ist aber von den Ultrarechten abhängig, denn die anderen rechten Parteien boykottieren ihn, solange der Prozess gegen ihn läuft. Sonst würde er lieber mit ihnen regieren. Der Prozess gegen Netanjahu richtet großen Schaden am politischen System an. Man hätte ihn rückblickend anders gestalten sollen. Der Prozess wurde vor drei Jahren mit großen Fanfaren begonnen; aber das Einzige, was bewiesen werden konnte, war, dass Netanjahu unerlaubte Geschenke angenommen hat. Warum ein so erfahrener Staatsmann so dumm sein konnte, sich Zigarren und Champagner schenken zu lassen, obwohl schon andere Politiker wegen Korruption im Gefängnis saßen, ist schwer zu verstehen. Er wusste, dass das nicht geht – und er tat es trotzdem, riskierte so viel für so wenig.

Tom Segev, prominenter israelischer Historiker, eröffnet am Mittwoch das Jüdische Filmfestival in Wien.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Und trotzdem hat Netanjahu die letzte Wahl gewonnen.

Segev: Israel ist unter ihm nach rechts gerückt, auch wirtschaftlich. Es geht den Menschen finanziell gut damit. Und er hat sie überzeugt, dass das Palästinenserproblem unter Kontrolle ist, dass es keine Lösungen gibt, aber auch keine schmerzhaften Beschlüsse notwendig sind.

STANDARD: Wie lässt sich der Rechtsruck eigentlich erklären?

Segev: Es gibt viele Gründe. Eine Million Einwanderer kamen aus der Ex-Sowjetunion, und sie wollen kein linkes Land. Es gibt die Orthodoxie, die so viele Kinder hat.

STANDARD: Hat auch die Besatzung zu einer Verrohung geführt?

Segev: Zweifellos. Das Militär ist immer mehr zu einer Besatzungsmiliz geworden. Eine ganze Generation hatte persönlich teil an der Unterdrückung der Palästinenser; und wenn sie das Militär verlassen, tragen sie das in sich.

STANDARD: Geht es der Protestbewegung nur um die Demokratie in Israel, oder liegt darin auch eine Chance für eine neue Friedensbewegung?

Segev: Der Frieden hängt nicht daran, dass eine Friedensbewegung wieder aufsteht. Auch die radikalste Friedensbewegung war nicht fähig, den Palästinensern etwas anzubieten, was diese akzeptieren könnten. Die Kluft ist einfach zu tief. Schon 1919 hat Staatsgründer David Ben-Gurion gesagt, es könne keinen Frieden geben. Das Einzige, was Israelis tun können, ist, den Arabern klarzumachen, dass wir hier für immer bleiben. Heute sagt man: den Konflikt managen. Aber dadurch steuern wir auf eine Situation zu, in der der jüdische Teil nicht mehr die Mehrheit hat. Das ist auch das Ende des Zionismus, denn dann ist es kein jüdischer Staat mehr.

"Der größte Fehler wurde 1967 gemacht, als Israel die besetzten Gebiete nicht sofort zurückgab", sagt Segev.

STANDARD: Aber wenn Sie und andere eine Friedenslösung nicht für möglich halten, bekräftigen Sie dann nicht den Status quo?

Segev: Ich weiß einfach nicht, was zu tun ist. Der größte Fehler des Zionismus wurde 1967 gemacht, als Israel die besetzten Gebiete nicht sofort zurückgab. 20 Jahre vorher hatte Ben-Gurion beschlossen, diese Gebiete nicht zu erobern, weil sie mit Arabern bevölkert sind. 18 Jahre später tat man es, weil man es konnte. Durch die Eroberung Ostjerusalems kann es heute keinen Vertrag geben; denn keine Mehrheit in Israel wird sich von dort je wieder zurückziehen, aber die Palästinenser können auch nicht verzichten. Wegen Jerusalem stecken wir fest.

STANDARD: Die Zwei-Staaten-Lösung ...

Segev: Ist nicht mehr relevant. Eine halbe Million jüdischer Siedler kann man nicht zwingen, ihre Häuser zu räumen. Und auch die Palästinenser träumen ja von einer Wiederkehr nach Haifa und Jaffa. Es ist ein Konflikt zwischen zwei Völkern mit zwei Geschichten, Kulturen, Glauben, Sprachen und Identitäten, die am gleichen Land hängen. Manchmal denke ich, dass Israelis und Palästinenser noch nicht genug gelitten haben. Ich hoffe ja nicht, dass etwas Furchtbares passiert. Aber ich weiß auch nicht, wie es zu lösen ist. (Eric Frey, 19.4.2023)