Jan Nepomnjaschtschi ist wieder voran.

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Astana – An diesem Dienstag hat Ding Liren wieder Lust auf Abwechslung. Als Jan Nepomnjaschtschi die siebente WM-Partie mit den weißen Steinen spielend habituell mit 1. e4, dem Doppelschritt des Königsbauern eröffnet, denkt Ding ein Minütchen nach. Dann schiebt der Chinese seinen e-Bauern nicht wie erwartet zwei, sondern nur ein Feld nach vorne. Und überall in der kiebitzenden Schachwelt raunt es aufgeregt: Französisch!

Die Französische Verteidigung hat eine reiche Geschichte und begeisterte Anhänger, auch in der Gegenwart, auch unter Großmeistern. Dennoch – und deshalb ist Dings Zug eine so große Überraschung – wird sie inzwischen als weniger "prinzipielle" Verteidigung betrachtet, verglichen mit dem Doppelschritt des e-Bauern oder der Sizilianischen Verteidigung.

Wer Französisch spielt, der sagt gleichsam zum Weißen: "Okay, du hast den ersten Zug, also nimm dir ruhig einmal das Zentrum. Ich werde es dann später von der Seite anknabbern." Es ist eine positionell gesunde Strategie, aber sie gesteht dem Anziehenden in vielen Abspielen zumindest etwas Raumvorteil zu – den Angriffsspieler gerne dazu nutzen, ihre Figuren zur Attacke auf den schwarzen König blasen zu lassen.

Nepo attackiert

Und genau das tut auch der aktuelle stärkste Angriffsspieler der Welt mit Namen Jan Nepomnjaschtschi. Mit 12. Ld3 und 13. De4 baut sich der Russe eine Dame-Läufer-Batterie, die wenig subtil mit Matt auf h7 droht. Dass Ding diese Drohung mit 13...Sf6 statt dem vorsichtigeren 13...g6 abwehrt, erlaubt es Nepo, die agile Dame nach h4 zu schwenken. Der schwarzfeldrige Läufer und der Königsspringer kommen ihrer Partyeinladung auch bald nach, und so langsam beginnen sich die ersten Beobachter nervös zu fragen: Wird Ding jetzt nicht einfach matt!?

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Gegen einen schwächeren Spieler würde Nepos Angriffsführung vermutlich rasch zu diesem Resultat führen. Ding Liren, die Nummer drei der Welt, findet dagegen die in der Stellung verborgenen Ressourcen. Um eine Serie hochpräziser Defensivzüge aufzuspüren, urasst der Chinese zwar mit seiner Bedenkzeit, dafür gerät Nepomnjaschtschis Angriff aber merklich ins Stocken. Nach Dings überraschendem 21...Ld6!? findet Nepo keine bessere Fortsetzung mehr als einen fragwürdigen Qualitätsgewinn (Turm für Läufer) unter Aufgabe eines Bauern.

Materiell sieht die Sache für Weiß nicht ungünstig aus, aber: Mit dem Königsangriff ist es vorbei. Und wenn es Nepo nicht gelingt, rasch sinnvolle Aufgaben für seine unkoordiniert in der Gegend herumstehenden Schwerfiguren zu finden, dann könnte die Partie nun leicht zu Gunsten des Schwarzen kippen.

Am Wendepunkt

In diesem Moment sind die Kommentatoren voll des Lobes für Dings Partieführung. Aus einer für ihn bedrohlichen Situation hat er sich, kaum weiß man wie, in eine Stellung gerettet, in der ihn die Computer bereits leicht im Vorteil sehen: Was für ein Weitblick! Könnte das gar der Wendepunkt im Match sein? Gelingt es Ding, Nepomnjaschtschi in beiderseitiger Zeitnot zu überspielen und seinen ersten Schwarzsieg in Astana zu erzielen?

Gerade als dieses Szenario an Plausibilität gewinnt, schlägt Ding mit nur noch fünf Minuten Bedenkzeit alle Vorsicht in den Wind und opfert mit 31...h4!? einen Bauern, um den König seines Gegners freizulegen. Nepomnjaschtschi greift zu, und nun muss es für Ding an der Zeit sein, seinen Läufer zu zentralisieren und damit im Verein mit der Dame den letzten verbliebenen Fußsoldaten zu bedrohen, der den weißen Monarchen schützt: 32...Le5 – oder nicht?

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Eingeschlafen

Ding Liren zieht nicht. Es vergeht eine Minute, es vergehen zwei. Ding zieht noch immer nicht. Wie versteinert sitzt der Chinese hinter seinem schwarzen Heer und lässt die Minuten herunterticken. Neun Züge muss Ding bis zur Zeitkontrolle im 40. Zug noch absolvieren, und das ist mit so wenig Zeit viel: Weil man bei der WM, anders als bei den meisten anderen Top-Turnieren, erst nach dem 60. Zug 30 Sekunden pro absolviertem Zug zur Grundbedenkzeit addiert bekommt.

Als Ding nur noch etwas mehr als zwei Minuten übrig hat und immer noch nicht zieht, hält es Kommentator Anish Giri nicht mehr auf seinem Sessel: "Leute, ich halte das nicht aus", sagt der Großmeister entnervt und tritt für einen Moment aus. Und Co-Kommentatorin Tania Sachdev schreit ins Mikrofon, als dürfte sie hoffen, vom Chinesen erhört zu werden: "DING, OH MEIN GOTT, ZIEH DOCH!"

Was ist nur in den großartigen Ding Liren gefahren? Ist er am Brett eingeschlafen?

Natürlich nicht buchstäblich. So aber sagt man im Schach, wenn ein Spieler scheinbar zu ziehen vergisst. Berüchtigte Fälle, in denen Spieler in simpler Stellung grundlos auf Zeit verloren, sind aus der Schachgeschichte überliefert. Aber dass einer am dramatischen Höhepunkt einer WM zur Salzsäule erstarrt, nein: das hat es so noch nie gegeben.

Mit nur noch 45 Sekunden bricht Ding Liren den Bann, den wer auch immer für die vergangenen fünf Minuten über ihn gesprochen hatte. Endlich zieht er, mit dem Turm statt dem Läufer – und es ist ein schlechter Zug.

Süßer Sieg

Zwei weitere schlechte Züge später, die der Chinese schon ohne nachzudenken herausblitzen muss, ist die schwarze Stellung rettungslos verloren: Der erhoffte Angriff auf den weißen König ist keiner, nach Damentausch wird Nepo ein leicht gewonnenes Endspiel am Brett haben.

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Um diesem sowie dem Partieverlust auf Zeit zuvorzukommen, reicht Ding Liren seinem Gegner nach 37 Zügen die Hand zur Aufgabe. Und man sieht dem Russen an, wie sehr der sich wundert, dass sein Gegner sich gerade mir nichts dir nichts selbstzerstört hat. Nepo musste dafür gar nichts leisten. Jeder Schachspieler weiß, dass solche Siege mitunter die süßesten sein können.

Bei Halbzeit der WM steht es 4:3 für Jan Nepomnjaschtschi, nur zwei der sieben bisher gespielten Partien endeten mit Remis. Am Donnerstag eröffnet Ding Liren mit den weißen Steinen die zweite Hälfte des Wettkampfs. (Anatol Vitouch, 18.4.2023)