Fünf Minuten. Länger würde der Fußweg vom Vereinsbüro der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs bis zum Bahnhof Floridsdorf im 21. Wiener Gemeindebezirk nicht dauern. Weitere 18 Minuten später könnte Elmar Wilhelm Fürst bereits am Westbahnhof stehen – zumindest in der Theorie. Doch auf dem Weg dorthin muss er einige Hürden überwinden.

Fürst ist eine von 216.000 Personen in Österreich, die "dauerhafte Probleme beim Sehen" haben. Ihre Beeinträchtigung kann nicht durch eine Brille oder Kontaktlinsen ausgeglichen werden. Trotzdem ist der Begriff unklar, wie die Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs kritisiert. Im Zuge einer Begriffsänderung fordern sie auch eine neue Erhebung. Die 216.000 Personen wurden im Jahr 2015 gezählt.

Dennoch brauchen sie alle eine barrierefreie Stadt – und Elmar Wilhelm Fürst hat so einige Ideen, was künftig zu verbessern wäre. Das macht ein Spaziergang mit dem 48-Jährigen deutlich.

Elmar Wilhelm Fürst auf dem Weg vom Bahnhof Floridsdorf zum Wiener Westbahnhof.
Foto: Redaktion

Die Baustelle

Es ist ein strahlend schöner Nachmittag. Fürsts durchsichtige Brillengläser färben sich dunkelblau, bevor ein Sonnenstrahl seinen Augapfel berührt. Er trottet den Gehsteig der Schlosshofer Straße in Richtung Bahnhof Floridsdorf entlang und entdeckt nach wenigen Schritten das erste Manko: Eine Baustelle blockiert das taktile Leitsystem.

An den sich vom Boden abhebenden weißen Streifen orientieren sich blinde Menschen mit einem Taststock. Sind sie durch ein Baugerüst, ein Fahrrad, einen E-Scooter oder schlicht von einer anderen Person verstellt, haben sie ein Problem. "Jede Veränderung alltäglicher Wege ist ein Hindernis, über das man stolpern kann", sagt Fürst.

Dasselbe sagt auch Hugo Furtado im Gespräch mit dem STANDARD. Er ist CEO des Wiener Unternehmens Dreamwaves, das blinde Menschen mittels Audio-Augmented-Reality navigieren will. Laut Furtado zählt die App Waveout seit Juni 2021 rund 3.000 Downloads.

Ist die Route eingegeben, leitet sie den Weg mittels Tönen. Ob man an einer Kreuzung links oder rechts abbiegen muss, verrät ein Audiosignal. Dass künftig auch Baustellen in der App integriert werden, kann sich Furtado gut vorstellen. Der Routenplaner könnte diese Straßen dann von vornherein vermeiden.

Der Bahnhof

Wie wichtig derartige Helferlein sind, weiß Fürst aus erster Hand. Trotzdem greift er im Alltag weder zu Taststock noch zur Leine des Blindenhunds, denn er ist nicht blind, sondern sehbehindert. Diese Unterscheidung ist wichtig, da Barrierefreiheit für beide Gruppen etwas komplett anderes bedeutet.

Ein Beispiel: Damit sich blinde Personen am taktilen Leitsystem orientieren können, muss dieses sich physisch vom Boden abheben. Wer eine Sehbehinderung hat, benötigt hingegen einen starken Kontrast. Die weißen Streifen müssen sich also nur optisch vom Untergrund abheben.

Fürsts Sehbehinderung liegt bei zehn Prozent. Aussagekräftig ist das seiner Meinung nach aber nicht. Er sieht schlecht. Alles ist unscharf. Unscheinbare Schriftzüge verschwinden, ebenso graue Übergänge zwischen Gehsteig und Hausmauern. Das heißt, er muss näher, manchmal sogar wenige Zentimeter nah ran, um lesen zu können, wann der nächste Zug fährt. So auch im Bahnhof Floridsdorf.

Die Distanz zu den Anzeigentafeln ist zu groß. Elmar Wilhelm Fürst kann sie nicht lesen.
Foto: Julia Beirer

Die erste Anzeige ragt gut zwei Meter über seinen Kopf. Fürst erkennt nichts, und sein Monokular, ein Minifernrohr, hat er nicht dabei. Er wisse sich zu helfen, mache oft ein Foto mit dem Handy und zoome rein, bis er den Bahnsteig lesen kann. Die Anzeigentafel auf Augenhöhe steht am anderen Ende der Halle.

Dort kann er alles ohne Lupe lesen. "Trotzdem ist es diskriminierend", sagt er. Oben hängen drei Bildschirme, unten nur einer, damit stehen unten auch weniger Infos. Fürst fordert, alle Anzeigen in solch einer Form anzubieten, dass man sich ihnen annähern kann. Die Deutsche Bahn mache das seit Jahrzehnten.

"Oft sind die Lösungen sehr einfach. Aber man muss es halt machen", sagt er. Die Deutsche Bahn hat beispielsweise auch die App "Bahnhofstafel live" programmieren lassen. Darin sind aktuelle Bahnhofsanzeigen der Deutschen Bahn zu sehen. Fürst zoomt sich gerade in die Anzeigentafel des Kölner Hauptbahnhofs, während in Wien-Floridsdorf die U-Bahn einfährt. Er steckt das Handy in die Jackentasche und steigt ein.

Die U-Bahn

Auf dem Weg zum Wiener Westbahnhof sieht er die roten Sitze, die gelben Haltestangen, dass die Frau neben ihm eine Brille trägt; er sieht die Häuser vorbeiziehen und das Display, auf dem der nächste Halt geschrieben steht. Lesen kann er es allerdings nicht.

Dass Pläne barrierefrei zugänglich sind, ist wichtig, damit sie alle Personen lesen können.
Foto: Redaktion

Das größte Problem für sehbehinderte und blinde Personen ist, sich an Orten zu bewegen, die sie nicht kennen. Auch von der U-Bahn in den Bus umzusteigen, ist kompliziert. Herauszufinden, wo der Bus abfährt, und die richtige Linie zu erkennen, ohne die Anzeige auf dem Bus zu lesen: ein Ding der Unmöglichkeit.

Doch es gibt sie schon, die innovativen Lösungen, die unvorhergesehene Situationen oder große Bushaltestellen für blinde und sehbehinderte Menschen leicht zugänglich machen. Das Unternehmen Trapeze-Elgeba beispielsweise zeigt in der deutschen Stadt Saarbrücken vor, wie Busfahren in Zukunft funktionieren könnte.

Umsteigen, bitte

Das Verkehrsunternehmen Saarbahn arbeitet künftig mit der Radar-App des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands Intros zusammen. Wer mitfahren möchte, wählt via App die gewünschte Linie und Zielhaltestelle. Gleichzeitig wird die Busfahrerin vor der Einfahrt darüber informiert, dass eine Person mit Seheinschränkung zusteigen möchte. In der Station angekommen, ertönen eine Ansage und ein sogenannter Tür-Findeton am Bus. So hören alle, wo der Einstieg ist.

Damit die Busfahrerin informiert werden kann, baut Trapeze aktuell die passende Ausrüstung in die Busse der Saarbahn. Mitte des Jahres sollten alle Busse ausgestattet sein. Davon geht zumindest Manfred Retka aus. Er hat die App mitgestaltet.

Fortschritte

Die Tür öffnet sich automatisch. Der Zustieg ist "hands free – Blindenverbände forderten das seit langem", weiß Retka. Wer einen Taststock in der einen und eine Einkaufstasche in der anderen Hand hat, könne schwer noch einen Knopf drücken.

Intros im Fahrzeug zu installieren kostet laut Retka weit weniger als die Hälfte von dem, was die Fahrscheindrucker in den Bussen kosten. Er glaubt, dass sich derartige Technologien rasch verbreiten werden. Das liege auch am deutschen Personenbeförderungsgesetz. Diesem zufolge hätte der öffentliche Personennahverkehr bereits mit 1. Jänner 2022 vollständig barrierefrei zugänglich sein müssen.

Die Gesetzeslage pusht den Fortschritt, ist Retka überzeugt. Neben der Saarbahn werde Intros derzeit bei einem weiteren Unternehmen installiert. Auch die deutschen Städte Paderborn, Essen und Freiburg würden mit einem ähnlichen System arbeiten.

Wien im Testbetrieb

Die Busse und Straßenbahnen der Wiener Linien sind zwar noch nicht mit barrierefreier Technologie ausgestattet, auf Nachfrage des STANDARD heißt es aber, dass derzeit ein Pilotprojekt rund um eine App-Lösung vorbereitet werde. Auch hier soll es akustische Ansagen und ein Signal für Fahrerinnen und Fahrer geben.

Seit August vergangenen Jahres laufe zudem eine automatische Zielansage in ausgewählten Haltestellen im Probebetrieb. Beim Öffnen der Straßenbahntüren werden Linie und Fahrziel automatisch über Außenlautsprecher angesagt.

Flächendeckend bereits in Verwendung sei zudem das Blindenleitsystem Poptis. Es entwirrt U-Bahn-Labyrinthe, indem ein Screen-Reader-Programm Wege beschreibt.

Sprechende Bushaltestellen

Wie Städte barrierefrei funktionieren, das beschäftigt auch Thorsten Büchner. Er arbeitet auf dem Campus der deutschen Blindenstudienanstalt (Blista) in Marburg und ist selbst blind. Marburg gilt als Vorzeigestadt, was Barrierefreiheit besonders für blinde Menschen betrifft.

Laut Büchner liegt das auch an regelmäßigen Treffen der Stadtverwaltung mit Vertreterinnen und Vertretern von Blinden- und Sehbehindertenverbänden, den vielen taktilen Leitsystemen und sprechenden Bushaltestellen. Sie geben akustisch Informationen über einfahrende Busse.

Wahrzeichen wie die Marburger Altstadt oder die Elisabethkirche seien zudem in taktile Miniaturmodelle aus Bronze gegossen, sodass man deren Form ertasten kann. "Das ist auch für Touristen und eigentlich jeden gut", sagt Büchner. In anderen europäischen Städten spürt er jedenfalls einen Unterschied in der Barrierefreiheit. Und das, obwohl die Normen überall gelten.

Blaue Würfel, orange Manschetten

Elmar Wilhelm Fürst ist mittlerweile am Westbahnhof angekommen. Auf dem Weg zur Mariahilfer Straße entdeckt er ein Paradebeispiel für Kontraste. Er zeigt auf einen Supermarkt. Dessen Schriftzug ist in weißer Schrift auf knallig roten Hintergrund geschrieben. "Das sehe ich sofort", sagt er. Die Wiener Linien daneben könne er hingegen nur erahnen.

Foto: Redaktion

Auffälliges Design wie der blaue U-Bahn-Würfel oder die orangefarbenen Manschetten rund um die silbernen Mistkübel in Wien heben sich vom Grau der Stadt ab. Diese relativ einfach umsetzbaren Maßnahmen bräuchte es laut Fürst überall, wo man auf etwas hinweisen möchte. Und das sei wiederum hilfreich für alle Personen. "Die perfekte Stadt für blinde und sehbehinderte Menschen unterscheidet sich nicht groß von der perfekten Stadt für alle", sagt er. (Julia Beirer, 10.5.2023)