Wie erleben Tiere ihre Welt? In einem längst klassischen Text ("What Is It Like to Be a Bat?") argumentierte der Philosoph Thomas Nagel vor fast 50 Jahren, dass wir Menschen es nie verstehen werden, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein – und zwar ganz egal, wie viel wir darüber wissen, was im Gehirn eines Fledertiers passiert und wie die Echolokation genau funktioniert.

Oktopoden haben ziemlich gute Augen und eine einzigartigen Tast-Schmeck-Sinn an den Saufnäpfen ihrer Tentakeln.

Nagels Gedankenexperiment, das sich gegen den naturwissenschaftlichen Reduktionismus richtet, gilt umso mehr für Tiere wie die Oktopoden, deren Entwicklungslinie sich von der des Menschen vor rund 500 Millionen Jahren getrennt hat. Dementsprechend kann es nur bei einem sehr abstrakten Gedankenexperiment bleiben, sich im Entferntesten vorzustellen, wie es sich mit acht Armen, drei Herzen und mehr Neuronen in den Armen als im zentralen Gehirn, das gleichwohl zu erstaunlichen Denkleistungen fähig ist, lebt.

Sehen mit der Haut

Wie aber nehmen diese achtarmigen Kraken ihre Umwelt wahr? Kopffüßer, zu denen neben den Kraken auch die zehnarmigen Tintenfische gehören, verfügen über ziemlich gute Linsenaugen, die allerdings anders aufgebaut sind als die der Wirbeltiere. Und Oktopoden können mit ihrer Haut rudimentär "sehen". Jedenfalls nehmen sie Licht auch über Hautzellen wahr.

Eine ähnliche Doppelfunktion haben die Hunderten von Saugnäpfe an den Beinen der Tiere. Dadurch können sie nicht nur ihre Umgebung abtasten, sondern zugleich auch "schmecken", wie man bereits seit einiger Zeit weiß. Wie das genau funktioniert, war bislang aber völlig unklar. Doch nun erhellen zwei aufwendige Studien nicht nur die genauen Mechanismen, die diese Tiere befähigt, bei Berührung zu schmecken. Sie zeigen auch, wie die Evolution sie mit dieser perfekten sensorischen Fähigkeit für ihre Lebensweise ausgestattet hat.

Oktopoden haben in ihren acht Armen mehr Neuronen als im zentralen Gehirn. Das ermöglicht jedem Arm, selbst und auf kurzem Wege zu reagieren.

Chemotaktile Rezeptoren

Für die erste Studie tat sich der Molekularbiologe Nicholas Bellono (Harvard University) mit dem Neurobiologen Ryan Hibbs (University of California San Diego) zusammen, um gemeinsam jene molekularen Strukturen zu erforschen, die Bellono an der Oberfläche der Saugnäpfe des Kalifornischen Zweipunkt-Oktopus (Octopus bimaculoides) gefunden hatte. Auf Basis von Untersuchungen des Oktopus-Genoms und kryoelektronenmikroskopischer Analysen entdeckten sie neue chemotaktile Rezeptoren mit speziellen Eigenschaften, wie sie im Fachblatt "Nature" berichten.

Diese Rezeptoren neigen unter anderem dazu, sich an "fettige" Moleküle zu binden, die sich nicht in Wasser auflösen. Das deute darauf hin, dass die Rezeptoren für die Erkennung von Chemikalien auf Oberflächen wie der Haut eines Fisches, dem Meeresboden oder den eigenen Eiern des Oktopus optimiert sind. Eine Vielfalt an Molekülen in den Saugnäpfen würde es den Tieren außerdem ermöglichen, extrem schnell festzustellen, was sie schmecken – ohne dass sie diese Informationen zur Verarbeitung an das Gehirn weiterleiten zu müssen.

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Evolutionäre Entwicklung

In einer zweiten Studie, die ebenfalls in "Nature" erschien, untersuchten Bellono, Hibbs und ihre Kollegen, wie diese chemischen Rezeptoren in Kopffüßern entstanden sind. Wie sie herausfanden, dürften sich diese Rezeptoren aus jenen entwickelt haben, die viele andere Organismen verwenden, um Signale durch das Nervensystem zu senden.

Die Forschenden verglichen daraufhin die Rezeptoren des Oktopus mit jenen der Tentakelsauger der gestreiften Pyjama-Sepie (Sepioloidea lineolata), die sich im Gegensatz zum Oktopus weniger am Meeresboden aufhält, sondern eher im Wasser schwimmt.

Die vergleichende Analyse zeigte, dass die Rezeptoren erstens unterschiedlich waren und sich zweitens unabhängig voneinander entwickelt hatten – schließlich hatten sich die Stammbäume der Tintenfische und der Kraken auch schon vor etwa 300 Millionen Jahren getrennt.

Nomen est omen: die gestreifte Pyjama-Sepie.

Die Notwendigkeit unterschiedlicher Rezeptortypen ist evolutionär sinnvoll: Tintenfische schwimmen im Wasser, sehen ihre Beute und schießen ihre Tentakel aus, um sie zu fangen. Das wiederum bedeutet, dass ihre Saugnäpfe einen Fisch erst schmecken, wenn sie ihn berühren. Für Oktopoden hingegen, die über den Meeresboden schweben und diesen nach Beute abtasten, ist eine Vielzahl empfindlicher Tentakelsaugnäpfe entscheidend. (tasch, 22.4.2023)