Wenn Charles Philip Arthur George Mountbatten-Windsor am 6. Mai offiziell zu König Charles III. gekrönt wird, dann wird dies nach Auffassung von Millionen Christinnen und Christen katholischen und anglikanischen Glaubens auch direkt in Präsenz Gottes passieren. Und zwar nicht nur im spirituellen Sinn: Denn Papst Franziskus, Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, hat seinem "Amtskollegen" Charles III. – der englische König ist gleichzeitig das weltliche Oberhaupt der anglikanischen Kirche – schon im Vorfeld der britischen Krönungsmesse ein großes Geschenk gemacht: eine Kreuzreliquie.

VIDEO: Wo steht Charles III. politisch und ideologisch?
DER STANDARD

Wie britische Medien berichteten, seien einige kleine Fragmente des Wahren Kreuzes Jesu in jenes Kruzifix aus walisischem Silber, Holz und Schiefer eingearbeitet, das bei der Prozession im Rahmen der Krönung zur Verwendung kommen soll.

Silber, Holz und Schiefer aus Wales – und Fragmente des Wahren Kreuzes Jesu aus Jerusalem: das Kruzifix, das bei der Krönung von König Charles III. zum Einsatz kommen wird.

"Bedeutende ökumenische Geste"

Bei den Reliquien handle es sich um ein "persönliches Geschenk von Papst Franziskus an Seine Majestät", teilte das britische Königshaus mit und würdigte dies als "eine bedeutende ökumenische Geste" der Verbundenheit zwischen den beiden christlichen Kirchengemeinschaften.

In heutigen, weitgehend areligiösen Zeiten muten christliche Reliquien – also "Überbleibsel" – von den Leichnamen von Heiligen oder von Gegenständen, die diese berührt hatten, reichlich eigentümlich an. Dennoch: Die katholische Kirche kennt und anerkennt viele, wenngleich nicht als dogmatische Glaubenswahrheit: Man ist also als Katholikin oder Katholik nicht dazu angehalten oder verpflichtet, selbst daran zu glauben oder sie zu verehren.

Da es der Kirche selbst bewusst ist, wie fragwürdig die Thematik rund um die Verehrung angeblicher Knochensplitter, Haarbüschel von Heiligen – oder eben des Kreuzes Jesu – sein kann, hat die Vatikanische Kongregation für die Selig- und Heilungsprechungsprozesse eine umfangreiche kirchenrechtliche Verordnung erlassen, die die Feststellung der Echtheit und den Umgang mit diesen Gegenständen regeln soll.

Glauben versus Wissenschaft

In dem Dokument wird auch explizit festgehalten: "Die Reliquien der Seligen und Heiligen dürfen nicht der Verehrung der Gläubigen ausgesetzt werden ohne die entsprechende Bestätigung der kirchlichen Autorität, die ihre Echtheit garantiert." Ein solches Echtheitszertifikat liegt wohl bei den Holzfragmenten vor, die Franziskus als Krönungsgeschenk auf die Britische Inseln geschickt hat.

Von einer solchen kirchenhistorischen Dokumentation auf eine naturwissenschaftlich fundierte Echtheit zu schließen scheint dennoch weit hergeholt – das zeigten in der Vergangenheit zahlreiche labortechnische Überprüfungen anderer Reliquien: So konnten Knochen- und Hautfragmente des Heiligen Philippus und des Heiligen Jakobus – sie zählten der christlichen Überlieferung gemäß zu den zwölf Jüngern Jesu – nicht in konkreten historischen Bezug auf diese beiden Personen gebracht werden: Die dafür von einer dänischen Universität angewandte Radiocarbonmethode datierte die seit Jahrhunderten in Rom aufbewahrten Fragmente auf den Zeitraum 214 bis 340 nach Christus. Sehr wohl konnte aber die sorgfältige Aufbewahrung der Reliquien ab dem sechsten nachchristlichen Jahrhundert dokumentiert werden.

Also alles Fälschung? De facto, zumindest in diesem Fall, ja. Aber nicht zwingend aus unlauteren Gründen. Es gilt in der rezenten historischen Forschung als sehr wahrscheinlich, dass zahlreiche Gebeine in früheren Zeiten durchaus in gutem Glauben exhumiert, fragmentiert, umgebettet und weiterverbreitet wurden. Nach heute üblichen Standards wurde in den ersten frühchristlichen Jahrhunderten freilich nicht vorgegangen. Es galt das Postulat des Glaubens – oder der Frömmigkeit – mehr als das der wissenschaftlichen Nachvollziehbarkeit.

Christentum, Buddhismus, Islam

Für etliche Glaubenslehrer in der katholischen Kirche ist es auch nicht weiter erheblich, ob eine Reliquie einer naturwissenschaftlichen Überprüfung auch tatsächlich standhält. Oft wird argumentiert, dass es zur Natur des Menschen gehöre, sich am Gegenständlichen zu orientieren, sich daran festzuhalten. Wohl auch aus diesem Grund kennt man Reliquien auch von Alters her aus dem Buddhismus und aus dem Islam. Hier wird von Knochen und Zähnen eines vor 2.500 Jahren verstorbenen Buddha berichtet, dort von Haarbüscheln des Propheten Mohammed, die angeblich allein in der Türkei in mehr als 1.800 Moscheen aufbewahrt sein sollen.

In Europa nahm die Verehrung von Heiligen- und Kreuzreliquien nach einem Boom im Mittelalter spätestens ab dem 18. Jahrhundert stetig ab. Für Papst Franziskus, der trotz seiner in sozialen Fragen vergleichsweise modernen Haltung in Glaubensfragen als Traditionalist gilt, dürften die fraglichen Holzfragmente jedenfalls eine tiefere Bedeutung haben.

Wie nahe bei Franziskus Modernität im Handeln und Tradition im Glauben liegen, lässt sich auch der Installierung einer "Beobachtungsstelle für Marienerscheinungen" ablesen (DER STANDARD hat hier berichtet). Auch hier geht es – ganz ähnlich wie in Sachen Reliquien – darum, die "die Untersuchung, Authentifizierung und korrekte Verbreitung solcher Ereignisse" konkret zu unterstützen. Auch hier gilt für den Vatikan: keine Glaubensverpflichtung, selbst nicht für Gläubige. (Gianluca Wallisch, 19.4.2023)