Ding Liren hat in der achten Partie der Schach-WM beste Gelegenheiten liegengelassen.

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Astana – Die zweite Hälfte der Schach-WM in Astana beginnt mit einer Eröffnung, die in diesem Match noch nicht diskutiert wurde. Ding Liren und Jan "Nepo" Nepomnjaschtschi kredenzen an diesem Donnerstag Nimzowitsch-Indisch. Es ist eine solide Eröffnungswahl Nepos, was Sinn ergibt, wenn man bedenkt, dass Schwarz die letzten vier Partien in diesem Wettkampf verloren hat.

Nach Dings Zusammenbruch in aussichtsreicher Stellung in Runde sieben, nach Nepos drittem Sieg, mit dem der Russe zum dritten Mal die Führung im Match übernahm, möchte er in dieser achten Partie vielleicht einfach einmal ein Schwarz-Remis ohne großes Drama erreichen und damit seinen Vorsprung bewahren.

Feuer am Brett

Aber woran auch immer es liegen mag: Diese beiden Kontrahenten scheinen einfach keine langweiligen Partien gegeneinander spielen zu können. Zumindest ist das der zwingende Schluss, den man nach acht Partien Ding vs. Nepo in diesem Match ziehen muss. Auch in Partie acht mündet nämlich eine scheinbar gemächlich positionelle Eröffnung rasch in ein scharfes, taktisches Handgemenge, und das geht so:

Zunächst stellt Ding Liren im neunten Zug seinen Turm nach a2, anstatt zum Beispiel seinen Königsläufer zu entwickeln und die Rochade vorzubereiten. Seltsam sieht der Zug aus, fast kakophonisch, aber Ding weiß genau, was er tut – und wie sich später in der Pressekonferenz herausstellen wird, ist auch Jan Nepomnjaschtschi über diese Idee im Bilde. Eine "Kanonenkugel" nennt Ding den Zug nach der Partie, der zuvor erst ein einziges Mal gespielt wurde. Damit deutet der Chinese an, dass er und sein Sekundant Richárd Rapport viel Zeit darauf verwendet haben dürften, die aus 9.Ta2!? entstehenden Varianten zu analysieren, und dass sie zum Schluss gekommen sind, dass Schwarz dabei einige spitze Klippen umschiffen muss.

Diagramm: Vitouch

Der Ta2 steht nämlich zum Schwenk bereit – entweder ins Zentrum, falls Schwarz dort etwas unternimmt. Oder, noch gefährlicher, auf den Königsflügel, sobald die weißen Bauern zum Angriff gegen den schwarzen König aufgerückt sind.

Ding drückt

Wem Letzteres weit hergeholt klingt, der sehe sich nur einmal die Stellung zehn Züge später an. Da hat Ding längst seinen Läufer auf g5 geopfert, um die h-Linie zu öffnen, und Nepo hat die Figur gleich wieder zurückgegeben, um der weißen Dame den Zugang zu h5 zu verwehren. Aber Ding fängt mit seinem Angriff gerade erst an. Erst einmal steckt der Chinese auf e5 noch einen Bauern ins Geschäft, um seinen anderen Zentralbauern bis nach d6 vorzustoßen.

Erinnerungen an Partie vier werden wach, als Ding ebenfalls einen Bauern gab und Nepo am Ende an der Stärke des weißen Freibauern auf e7 zugrunde ging. Ähnlich könnte es dem Russen diesmal auch wieder ergehen, der zwei Baustellen zugleich bearbeiten muss: Der Freibauer auf d6 bedarf der permanenten Bewachung, während die offene h-Linie immer noch gut für einen Mattangriff gegen den schwarzen König ist. Und der im 9. Zug auf a2 postierte Turm? Dem läuft angesichts der mit jedem Zug steigenden Wahrscheinlichkeit eins tödlichen Schwenks nach h2 offensichtlich bereits das Wasser im Mund zusammen.

Diagramm: Vitouch

Während Computerprogramme die Stellung immer noch im Gleichgewicht sehen, wirkt Nepomnjaschtschis Stellung für menschliche Beobachter immer bedrohter. Und tatsächlich verliert der Schwarze mit 22…Lxe4? in unübersichtlicher Lage den Faden. Ding, der zuvor viel Bedenkzeit investiert hatte, bevor er sich auf die Komplikationen einließ, schießt seine nächsten zwei Züge à tempo heraus. Mit dem von Nepo übersehenen 24. Td2! bewahrt der Weiße alle Trümpfe seiner Stellung – nur um zwei Züge später den Gewinnzug 26. Td3! mit der Idee Th3 gefolgt von Dxe5+ zu verpassen.

Nepo blufft

Es ist ein überraschender Patzer Dings, der die Vermutung aufkommen lässt, dass der Chinese noch unter dem Einfluss seiner unnötigen Niederlage in Partie sieben steht. Und der weitere Verlauf der 8. Partie ist leider dazu angetan, diese Vermutung zu bestätigen. Denn Ding Liren lässt im 32. Zug noch einen weiteren Sitzer aus. Da blufft Nepo mit einem Damenzug nach h4, der einen Turm einzustellen scheint, dafür aber mit Dauerschach und also Remisschluss droht.

Diagramm: Vitouch

Nur: Das Dauerschach gibt es gar nicht. Weiß hätte nach einer Serie schwarzer Damenschachs die Möglichkeit, seinen eigenen Turm zurückzuopfern und dafür den vorgerückten d-Bauern in eine Dame zu verwandeln. Ding, dessen Rechenkünste in der Schachwelt gefürchtet sind, sieht so etwas normalerweise. Und auch Nepo sieht es – nachdem er seinen Zug ausgeführt hat, wird dem Russen bald klar, was er angerichtet hat.

Mit dem schnell ausgeführten 32. Kd1? jedoch glaubt Ding Nepos Bluff und lässt den Sieg zum zweiten Mal an diesem Tag aus. Als der Chinese fünf Züge später auch noch ein Springeropfer seines Gegners übersieht, droht die Partie in Zeitnot sogar komplett zu kippen. Mit nur noch Sekunden auf der Uhr findet Ding die korrekte Verteidigung und steuert das Spiel in den bei diesem Match noch wenig frequentierten Remishafen.

Lichess Leak

Als ob der verpasste Sieg nicht schon ärgerlich genug wäre, tritt nach der Partie dann noch weiteres Ungemach für das Team Ding Liren zutage: Trainingspartien, die Aufschluss über die Eröffnungsvorbereitungen des Chinesen geben, sollen auf der Plattform lichess.org aufgetaucht sein. Handelt es sich um ein echtes Leak, dann könnten die offenbar im Februar zwischen Ding und seinem Sekundanten Rapport mit anonymen Accounts gespielten Partien Jan Nepomnjaschtschi für die zweite Matchhälfte Hinweise darauf geben, was Ding noch so in petto hat.

Einstweilen bleibt der Russe jedenfalls mit 4½-3½ in Führung und darf zur Belohnung am Freitag wieder die in diesem Match besonders lukrativen weißen Steine führen. (Anatol Vitouch, 20.4.2023)