In Italien kommen seit Wochen viermal so viele Flüchtlinge an wie im Vergleichszeitraum 2022.

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Die Situation hat über den Winter nichts an Dramatik verloren. Nach wie vor riskieren tausende Menschen aus Krisengebieten in Afrika und Asien ihr Leben, um in die EU zu gelangen. Zwar erreichten in den vergangenen kalten Monaten über die Balkanroute weniger Flüchtende Österreich – dafür explodierten zuletzt die Zahlen von Bootsflüchtlingen, die oft aus Tunesien über das Mittelmeer nach Italien kommen.

VIDEO – Geflüchtete in Tunesien: "Wir wollen in ein Land, wo wir respektiert werden."
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In Österreich haben Kanzler und Innenminister auf die irregulären Ankünfte nur eine Antwort: "Illegale Migranten" müssten tunlichst ferngehalten werden. Und sind sie nun einmal schon da, haben Asyl beantragt und sind im Land geblieben, so gilt: Hier mithelfen, also arbeiten und sich dabei integrieren, sollen sie nicht. Sondern nur im Fall eines positiven Asylbescheids.

Massiver Personalmangel

Dabei könnten wir in Österreich in vielen Branchen aktuell jede zusätzliche Hand brauchen. Wirtshausbetreiberinnen und Spitalserhalter, Handwerksbetriebe und Pflegeanbieter leiden unter massivem Personalmangel. Warum greifen sie nicht unter Asylsuchenden zu, bei Kräften, die sich schon im Land befinden? Warum schotten wir uns gegen die Menschen, die aus Not zu uns fliehen, so sehr ab? Und warum werden wir nicht aktiv und erleichtern den Zuzug von Erwerbsmigranten? Ein Überblick über Migration und Arbeitsmarkt.

Wieso wieder mehr Flüchtlinge nach Italien kommen:

Auch in Italien beginnt mit dem nahenden Sommer die Suche nach Personal. In der Vorwoche ließ der italienische Außenminister Antonio Tajani auf seiner Tunesien-Reise mit der Ankündigung aufhorchen, dass Italien rund 4000 Tunesier ausbilden, anheuern und einreisen lassen werde. Angesichts des Mangels von rund einer Million Arbeitnehmern ist das jedoch eher eine symbolische Geste – sie ist in erster Linie an Tunesien gerichtet, das die irreguläre Migration in Richtung Italien weiter eindämmen und Rückführungen von Tunesiern beschleunigen soll.

Schon seit Wochen schlägt Premierministerin Giorgia Meloni mit Blick auf Tunesien Alarm: Seit Jahresbeginn sind bereits rund 34.000 Menschen vor allem aus Westafrika und Südasien mit dem Boot in Italien, das den Notstand ausgerufen hat, angekommen. Das sind viermal so viele wie im ersten Quartal des Vorjahres und der massivste Anstieg seit 2017. Davon brach das Gros (rund 18.000 Menschen) von Tunesien aus auf, das erstmals Libyen als Transitland überholt.

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"Wenn Tunesien kollabiert, muss Italien mit 900.000 Flüchtlingen rechnen", warnte Meloni jüngst vor einem "unbeherrschbaren Zustrom". Tunesien leidet unter massiver Armut, Inflation und Wasserknappheit – dem Staat droht der Bankrott. Rom pocht seit Wochen darauf, Tunesien, das heuer bereits 14.000 Migranten an der Überfahrt hinderte, finanziell unter die Arme zu greifen – allerdings ungeachtet dessen, dass Machthaber Kais Saied das nordafrikanische Land zunehmend autoritär regiert.

Rassistische Tiraden

Statt Lösungen für die Probleme zu finden, sperrt er Kritiker ein und macht die 21.000 westafrikanischen Migranten im Land mit rassistischen Tiraden zum Sündenbock. Ganz nach dem Vorbild europäischer Rechtsradikaler sprach er im März von einer gesteuerten "ethnischen Umvolkung", was zu brutalen Übergriffen auf Schwarze führte.

Etliche verloren laut NGOs ihre Jobs und standen vor der Wahl, in die Heimat umzukehren oder, wie abertausende Tunesier, Richtung Europa weiterzuziehen. Das eher milde Wetter hat demnach ebenso dazu beigetragen, dass viele schon jetzt die Überfahrt wagen – ein Trugschluss, wie die Todeszahl – rund 500 Personen seit Jahresbeginn – zeigt.

Rom fordert angesichts der Lage, dass der Westen dem Land einen Teil der dringend benötigten Kreditmittel, die der Internationale Währungsfond (IWF) Tunesien in Aussicht gestellt hat, auch ohne die vom IWF gewünschten Sparmaßnahmen auszahlt. Denn Saied, der öffentlich mit einer Annäherung an Russland und China liebäugelt, lehnt Reformen als "Diktat von außen" ab. Rückenwind bekommt Italien von EVP-Chef Manfred Weber, der wie zuvor Meloni im Bild-Interview einen EU-Migrationspakt mit Tunesien nach dem türkischen Modell fordert. Rückführungen von Menschen ohne Chance auf Asyl zugunsten von legaler Migration lautet hier die Devise, um Schleppern das Handwerk zu legen – so wie ursprünglich beim Deal mit Ankara.

Asyl und Migration werden strikt getrennt. Warum eigentlich?

Ihr folgt auch Österreichs Kanzler. Zwischen Asyl und Migration brauche es eine "klare Trennung", sagte Karl Nehammer (ÖVP) nach der Abschiebung der im Asylverfahren negativ beschiedenen indischen Familie Lopez, deren Mutter im oberösterreichischen Haslach als Köchin unverzichtbar war und deren Tochter eine Pflegeausbildung machte.

Asylwerbenden direkten Zugang zu Jobs zu gewähren würde das Geschäft von "Schleppern und organisierter Kriminalität" – und damit den sogenannten Pull-Faktor – fördern, meinte der Kanzler. Von Fachleuten und NGOs kommt Widerspruch. "Dass sich noch mehr Menschen auf gefährliche Fluchten einlassen, wenn das Asylrecht in Österreich liberalisiert würde, ist unwahrscheinlich", sagt Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination. Derlei Details seien in einer Fluchtsituation nicht ausschlaggebend. Menschen, die politischer Verfolgung oder existenzieller Not zu entkommen versuchen, hätten keine andere Wahl.

Derzeit werden Asylwerbende in Österreich fast völlig vom Arbeitsmarkt ferngehalten. Finden sie einen Job, so muss laut Arbeitsmarktservice sechs Wochen lang nach einer vorgereihten Arbeitskraft gesucht werden. Das schreckt potenzielle Brötchengeber allermeist ab.

In Österreich werden an allen Ecken und Enden Arbeitskräfte gesucht – während die Köchin Emilia Lopez und ihre Kinder nach Indien abgeschoben wurden, obwohl sie hier einen Job hatte.
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Haben sie dennoch einen Arbeitsplatz ergattert, so ist das im Fall einer Asylablehnung kein Grund für ihren Verbleib im Land. "Die Ausübung einer Beschäftigung hat keinen Einfluss auf die Entscheidung, ob ein Flüchtling humanitäre Bleibegründe hat", sagt Wilfried Embacher, Anwalt in einer Reihe umstrittener Abschiebefälle – auch jenem von Familie Lopez.

Umstieg auf Rot-Weiß-Rot-Karte ermöglichen

Mit politischem Willen könnte das natürlich geändert werden, sagt Embacher. Neben einfacherem Zugang zu Jobs für Asylwerbende könnte eine bestehende Beschäftigung als Bleiberechtsgrund explizit ins zuständige BFA-Verfahrensgesetz hineingeschrieben werden. "Oder aber wir ermöglichen Asylwerbern, die arbeiten, einen Umstieg auf die Rot-Weiß-Rot-Karte."

Durch Personalmangel bedingt wird Letzteres von den Sozialpartnern inzwischen diskutiert. Dass sich die Sozialpartner damit beschäftigen, zeige, dass es ernsthaft erwogen werde, sagt die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger. Die auf demonstrative Härte setzende Politik jedoch gehe hier nicht mit.

Die Rot-Weiß-Rot-Karte – und ein Blick ins liberalere Deutschland

Besagte Rot-Weiß-Rot-Karte (RWR-Karte) sorgte lange sowohl bei Unternehmen als auch bei Antragstellern fast für Frust. Als hochbürokratisch und realitätsfremd galt der Prozess. Das und der ausufernde Fachkräftemangel führten vergangenen Herbst zu einer Reform der Karte. Zu den wesentlichen Neuerungen zählen gesenkte Gehaltsgrenzen und abgespeckte Anforderungen bei den Sprachkenntnissen. Zudem kann sich die Familie des Antragstellers zeitgleich bewerben.

Die Bewilligungszahlen steigen. Im ersten Quartal wurden laut Arbeitsministerium rund 1900 Anträge bewilligt – um 50 Prozent mehr als im Vorjahresvergleichsraum.

Ein sogenannter "Spurwechsel", also vom Asylverfahren ins RWR-Karten-Verfahren, ist hierzulande politisch kein Thema. Migrationsexperte Thomas Liebig von der OECD gibt zu bedenken: "Viele der Betroffenen würden auch nach einer Asylablehnung längerfristig in Österreich bleiben. "Sie dauerhaft von Integrationsmöglichkeiten wie dem Arbeitsmarkt auszuschließen ist keine tragfähige Lösung."

Ihm sei bewusst, dass es wegen der hohen Asylzahlen hierzulande gewisse Sorgen gibt, deswegen brauche es beim Arbeitsmarktzugang die richtigen Parameter und Kommunikation. "Wichtig ist, dass Zugangswege so gestaltet sind, dass für Migranten ohne Schutzbedarf, die aber einen Arbeitsplatz suchen, der Zugang über Arbeitsmigration, also die RWR-Karte, klar die erste Wahl ist."

Deutschland pflegt ein liberaleres System mit Blick auf den Arbeitsmarkt.
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Liebig verweist auf das liberaler ausgestaltete System in Deutschland. Wer in Deutschland lebt und arbeitet, im Asylverfahren aber abgelehnt wurde, muss nicht automatisch das Land verlassen. Ist die Person gut genug integriert, kann sie eine Beschäftigungsduldung bekommen, die sich mit der Zeit in einen Aufenthaltstitel umwandelt.

Deutscher Spurwechsel

Seit heuer gilt zudem das "Chancenaufenthaltsrecht". Es soll gut Integrierten und Geduldeten, die mindestens fünf Jahre ohne gesicherten Status in Deutschland leben, eine Perspektive bieten. Sie erhalten eine Beschäftigungserlaubnis und haben – verkürzt gesagt – 18 Monate Zeit, um einen Job zu finden und Sprachkenntnisse nachzuweisen. "Schweden hat einen interessanten Ansatz. Dort ist die Arbeitsmigration einfach, im Prinzip kann jeder kommen, der ein Jobangebot hat", sagt Liebig. Dafür sei der Spurwechsel sehr restriktiv und streng.

Modelle zur Orientierung gibt es in Europa einige. Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) und Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer haben angekündigt, enger kooperieren zu wollen, um das Problem in den Griff zu bekommen. Konkret wurden sie dabei allerdings nicht. (Irene Brickner, Andreas Danzer, Flora Mory, 21.4.2023)