Egal wie man zum Thema künstliche Intelligenz stehen mag, ob man den aktuellen Hype für gerechtfertigt oder überzogen hält, ob man die aktuellen Entwicklungen eher mit Begeisterung oder doch mit Sorge verfolgt, eines ist unumstritten: OpenAI hat mit ChatGPT nicht nur für Begeisterung bei vielen gesorgt, die zuvor noch nie mit dem Thema Maschinenlernen zu tun hatten, sondern auch einen regelrechten Umbruch in der Softwarebranche ausgelöst. Kaum eine Firma kommt an diesem Thema vorbei, irgendwie machen derzeit alle etwas mit KI, hat es zumindest den Anschein.

Bing ist wieder ein bisschen cool

Besonders geschickt hat es dabei Microsoft verstanden, den aktuellen Hype für sich zu nutzen. Dem Unternehmen ist das Kunststück gelungen, die eigene Suchmaschine Bing dank der Integration der Technologie von OpenAI fast schon wieder "cool" zu machen. Zur Erinnerung: Es handelt sich dabei um eine Software, die in den vergangenen Jahren eher ein zuverlässiges Ziel von Spott als eine ernsthafte Konkurrenz zu Google war.

Diese Entwicklung führt nicht nur zu einem verlockenden und somit dieser Tage gerne bedienten Narrativ – das des einst so unangreifbar und jetzt doch verblüffend panisch wirkenden Suchmaschinengiganten –, sie hat durchaus konkrete Auswirkungen. Und zwar auch in Bereichen, bei denen man auf den ersten Blick nicht damit rechnen würde.

Wechselt Samsung?

Vor wenigen Tagen sorgte ein Bericht der "New York Times" für Aufsehen. Demnach spiele Samsung mit dem Gedanken, die Default-Suchmaschine bei seinen Smartphones zu ändern und sich so ein Stück von Google abzusetzen. Das wäre natürlich ein schwerer Schlag für Google, immerhin ist Samsung der größte Smartphone-Hersteller der Welt und wohl Googles wichtigster Partner im Android-Bereich. Entsprechend alarmiert reagierte die Börse, die Google-Aktie gab deutlich nach.

All das hat allerdings ein klitzekleines Problem: Es ist schlicht Unsinn. Was dabei nämlich vergessen wird: Samsung kann nicht einfach so auf eine andere Default-Suche wechseln. Diese Position ist nämlich durch das sogenannte Mobile Application Distribution Agreement (MADA) vorgeschrieben.

Die Default-Suche spiegelt sich vor allem auf dem Homescreen über das zugehörige Widget wider. Aber auch um die Suche in den jeweiligen Browsern geht es bei diesem Thema.
Foto: Proschofsky / STANDARD

Dabei handelt es sich um jenes Abkommen, das jeder Android-Hersteller unterzeichnen muss, will er auf seinen Geräten auch nur irgendeinen Google-Dienst verwenden. Und hier sprechen wir nicht bloß von der Google-App, Gmail oder Google Maps, sondern vor allem auch vom unter Android alles beherrschenden Play Store sowie den Play Services, einem Infrastrukturdienst, der von einem Großteil sämtlicher Android-Apps für Dinge wie Werbung, Standort oder Push-Benachrichtigungen verwendet wird.

Kompletter Abgang?

Meint es Samsung also ernst mit der neuen Default-Suchmaschine, müsste man sich schon vollständig von Google und all seinen Apps und Diensten verabschieden. Das würde aber mit einem nicht gerade geringen Risiko für das eigene Smartphone-Geschäft einhergehen. Denn so mächtig Samsung fraglos ist, es sei daran erinnert, dass auch Huawei mal knapp davor stand, der weltweit größte Smartphone-Hersteller zu werden – bevor die Nutzung der Google-Dienste durch einen Handelsbann der USA blockiert wurde.

Die EU bildet eine Ausnahme, aber ...

An dieser Stelle muss nun betont werden, dass das MADA in dieser Form nicht mehr in allen Ländern gilt. So haben etwa die Wettbewerbsbehörden in der EU schon vor einigen Jahren die Vorschrift, Google auf allen Geräten zur Default-Suchmaschine zu machen, gekippt. Das Ergebnis ist, dass jetzt allen Nutzern beim Einrichten eines neuen Geräts eine zufällige gereihte Liste an Optionen angeboten wird, aus der sie selbst wählen müssen. Das heißt aber auch, dass es hier einfach keine Default-Position mehr gibt, die jemand wie Samsung überhaupt an wen anderen vergeben kann.

Die Regulierung der vergangenen Jahre würde Samsung in der EU allerdings noch eine weitere Option geben. Nämlich sämtliche Dienste von Google – also inklusive Play Store und Play Services – zu nutzen und nur auf Chrome und die Google-Suche zu verzichten. Klingt verlockend, es gibt aber einen Grund, warum bisher kein einziger Hersteller dieses seit Jahren bestehende Angebot angenommen hat. Google ist nämlich auch nicht ganz blöd, also fallen bei dieser Option durchaus signifikante Lizenzgebühren an – von 40 US-Dollar pro Gerät war vor einigen Jahren die Rede.

Selbst wenn Samsung bereit wäre, diese Kosten zu schultern – und zusätzlich auch noch auf die sehr einträgliche Beteiligung an den Google-Sucheinnahmen verzichtet –, wäre das aber auch sehr viel Arbeit für ein paar Länder – im Rest der Welt geht das ja nicht.

Taktisches Geplänkel

Insofern erscheint zumindest derzeit keine dieser Optionen sonderlich realistisch. Wahrscheinlicher ist da schon, dass Samsung und Google gerade in Verhandlungen um die bereits kurz angeschnittene Gewinnbeteiligung bei Suchanfragen stecken, das deutet auch der Bericht der "New York Times" an. Da ist es dem südkoreanischen Hersteller natürlich zupass, dass über solch ein Drohszenario indirekt die eigene Verhandlungsposition gestärkt wird.

Die Apple-Frage

Nur am Rande: Interessant ist bei all dem übrigens, dass niemand über einen ganz anderen Deal spricht, der für Google wohl sogar noch wichtiger ist: jenen mit Apple. Dieser ist nämlich durch die aktuellen Entwicklungen wesentlich stärker gefährdet, da der Hebel von Google in diesem Fall schlicht Geld heißt. Allerdings viel Geld: Satte 15 Milliarden US-Dollar soll Google zuletzt an Apple für die Voreinstellung der eigenen Suchmaschine auf allen iPhones gezahlt haben – und zwar jährlich.

Nun ergibt sich – vor allem aus Sicht von Apple – sehr gut, dass Microsoft auch nicht gerade ein ärmliches Unternehmen ist. Sollte der Bing-Hersteller bereit sein, für diese Position ausreichend Geld in die Hand zu nehmen, würde Apple sicher ein offenes Ohr haben. Und sei es nur, um den Preis für Google weiter hochzutreiben.

Das relative Kräfteverhältnis verschiebt sich

Doch zurück zu Android. Denn unabhängig von der konkreten Samsung-Geschichte zeigt der Bericht doch eines sehr wohl gut auf: Die aktuelle Entwicklung schwächt generell Googles Position rund um Android. Ist doch die Beliebtheit der Google-Dienste umgekehrt auch ein wichtiger Grund, warum die Hardwarehersteller sich auf diese Deals einlassen. Je weniger diese Dienste genutzt werden, desto stärker wird relativ gesehen die Position der OEMs, die dann mehr Freiheiten fordern könnten.

Nun muss betont werden, dass all das bislang noch hypothetischer Natur ist, immerhin ist von einem Niedergang irgendwelcher Google-Services bislang nichts bemerkbar. Wie immer bei solchen Dingen geht es also um die Trends der kommenden Jahre. Das ändert aber wiederum nichts daran, dass so etwas für Google in eine Art Abwärtsspirale in Bezug auf das bisherige Geschäftsmodell rund um Android münden könnte. Warum? Weil eine Lockerung der Regeln wiederum in einen Rückgang der Nutzung von Google-Diensten führen könnte – was wie oben beschrieben erst recht wieder die Hardwarepartner stärkt.

Irgendwann müsste Google sich dann also überlegen, ob das bisherige Geschäftsmodell rund um Android in dieser Form noch haltbar ist. Immerhin ist es kein Geheimnis, dass Android von Google von Anfang an als ein Vehikel zur Verbreitung der eigenen Dienste gedacht war und deshalb kostenlos an die Partner abgegeben wurde – und wird. Der Grund dafür entbehrt aus der aktuellen Perspektive übrigens nicht ganz der Ironie: Die Google-Gründer befürchteten, sonst von Microsoft überrollt zu werden.

Unabhängigkeit dank Hardware

Sehr viel einfacher und logischer als die Lockerung irgendwelcher Regeln erscheint insofern ein anderer Schritt: Google muss in dieser Situation noch deutlich stärker auf die Entwicklung eigener Hardware setzen. Immerhin kann man auf eigenen Smartphones und Tablets installieren, was man will – Apple weiß davon, ein erfolgreiches Lied zu singen.

Je mehr Pixel-Geräte verkauft werden, desto besser ist das also auch für die eigenen Dienste, und desto weniger gefährlich sind die Drohungen anderer Android-Hersteller. Google würde damit also sein Schicksal verstärkt selbst in die Hand nehmen – ähnlich wie es Apple bereits aus der anderen Richtung mit der Verschränkung von Hardware, Plattform und Diensten macht.

Die aktuellen Top-Smartphones von Google: Pixel 7 und Pixel 7 Pro. Die eigene Hardware wird für das Gesamtgeschäft von Google immer wichtiger.
Foto: Proschofsky / STANDARD

Maschinenlernen

Es gibt für Google aber noch einen weiteren Grund, die eigenen Hardware-Aktivitäten zu intensivieren, und den werden manche mit einem Blick auf aktuelle Smartphones bereits erahnen. Um Maschinenlernaufgaben effizient auf einem solchen Gerät laufen zu lassen, braucht es eine enge Verschränkung von Hard- und Software.

Bereits jetzt verbaut Google eigene Chips, die spezifisch auf einzelne Aufgaben optimiert wurden. Das ermöglichte es Google schon vor Jahren, eine deutlich schnellere Spracheingabe als andere Hersteller anzubieten, auch viele Kamera-Features wären ohne diese Dinge undenkbar. Und je mehr KI-Features in unseren Alltag vordringen, desto wichtiger wird wiederum diese Verschränkung. Zumal man damit auch die perfekte Bühne hat, um sich dann im Wettbewerb von anderen Herstellern wie Apple abzusetzen. Dass Google offenbar nicht mehr so recht daran glaubt, mithilfe von Samsung Apple Paroli zu bieten, machte ja schon unlängst die Runde.

Es bleibt ein Risiko

So logisch das alles klingt, es gibt dabei natürlich auch ein gewisses Risiko: Wenn die Kunden nicht mitspielen und die Absätze der Pixel-Hardware nicht – deutlich – anziehen, hat Google mit dieser Strategie früher oder später ein Problem. Ist sie doch selbst nicht gerade dem Verhältnis zu anderen Android-Herstellern zuträglich. Und dann könnte es zu dem genau umgekehrten Effekt kommen, nämlich dass ein großer Anbieter wie Samsung Druck macht, damit Google die eigene Hardware einstellt – oder wieder auf das Niveau eines besseren Hobbys zurückführt, wie es in früheren Jahren der Fall war.

Will Google sein Schicksal selbst in der Hand haben, muss das Unternehmen also die eigenen Hardwarebemühungen weiter verstärken und das entsprechende Risiko eingehen. Und das heißt natürlich auch, ordentlich Geld in die Hand zu nehmen, um die Verbreitung – und zwar die globale und nicht nur jene in wenigen ausgewählten Ländern – deutlich zu steigern. (Andreas Proschofsky, 21.4.2023)