In Siliguri im Nordosten Indiens gehen Menschen aus Solidarität mit dem Dalai Lama auf die Straße.

Foto: AFP/DIPTENDU DUTTA

In den vergangenen Tagen haben sich Tibeter und Tibeterinnen sowie Anhängerinnen und Anhänger des Dalai Lama auf der ganzen Welt hinter den buddhistischen Mönch gestellt. Die Szenen, die in einem umstrittenen Video zu sehen sind, seien aus dem Kontext gerissen. "We stand with His Holiness the Dalai Lama" und "Misleading the public is a disgrace", heißt es auf Plakaten sowohl bei Kundgebungen in den indischen Himalaja-Regionen Ladakh und Arunachal Pradesh, in Dharamsala, aber auch in den USA und europäischen Städten wie Wien.

"Stop the misrepresentation" ist eine der häufigsten Forderungen. Die Menschen sehen eine auf Video festgehaltene Szene zwischen dem 87-Jährigen und einem indischen Buben als missverstanden an. In dem Video sieht man den Dalai Lama, wie er bei einer Veranstaltung im indischen Dharamsala zu einem Kind auf Englisch "Suck my tongue" sagt. Das Setting Ende Februar war eine Belehrung mit mehreren Schülern aus Neu-Delhi, eingeladen von der M3M Foundation. Bei dem Buben handelt es sich um den Sohn von Förderern der Organisation.

Rund eineinhalb Monate später, nachdem der Clip im Netz viral gegangen war und für Aufregung gesorgt hatte, veröffentlichte das Büro des Dalai Lama eine Stellungnahme, in der er sich für die Worte entschuldigte. Der Dalai Lama interagiere mit seinen Gesprächspartnern oft auf "unschuldige und spielerische Art", hieß es zudem.

"Iss meine Zunge"

Der Dalai Lama hätte sich nie entschuldigen müssen, erklären nun viele in den Solidaritätsbekundungen. Im Mittelpunkt der Erklärungen vieler Tibeter dafür, warum die Szene spielerisch zu verstehen sei, steht die tibetische Redewendung "Che le sa", was so viel heißt wie "Iss meine Zunge". Sie werde typischerweise benutzt, wenn Kinder zum Beispiel ihre Großeltern nerven, ihnen Süßigkeiten zu geben. Wenn man alles gegeben hat, das Kind aber weiter bittet, kommt es zu der Aussage, dass man nun nur noch die Zunge geben könne, also: "Iss meine Zunge." Nicht in allen Regionen Tibets sei diese Redewendung geläufig, meinen manche Tibeterinnen und Tibeter.

Wenn man sich die gesamte Veranstaltung anschaue, so sehe man, dass es das Kind gewesen sei, das nicht nur einmal, sondern mehrmals um eine Umarmung gebeten habe. In der umstrittenen Szene fordert der Dalai Lama den Buben schließlich auf, ihn auf die Wange zu küssen, erst links, dann rechts, dann folgt der umstrittene Zungen-Moment.

Kein sexualisiertes Objekt

Die Zunge sei unter Tibetern aber kein sexualisiertes Objekt, erklärt eine Tibeterin, die schon seit vielen Jahren in Wien lebt. In Tibet gebe man seinen Kindern oft Essen über den Mund. Auf der Donauinsel sehe man zum Beispiel im FKK-Bereich nackte Menschen, das sei komisch für sie, aber auch das sei nicht sexuell gemeint, vergleicht es die Tibeterin.

Außerdem sei die Mutter des Buben selbst anwesend gewesen, das Zusammentreffen in aller Öffentlichkeit geschehen, der rund zehnjährige Bub habe im Anschluss selbst vor der Kamera gesagt, wie toll die Erfahrung für ihn gewesen sei.

Angesprochen auf das grenzüberschreitende Momentum, das in dem Video zu sehen ist, heißt es einerseits, dass der Dalai Lama bekannt für grenzüberschreitende Maßnahmen in der Begegnung mit anderen sei. Oder einfach, wie es die Wiener Tibeterin ausdrückt: Für uns gibt es diese Grenze nicht.

So sehen die einen in dem Video Grenzüberschreitung oder etwa "Machtungleichheiten und Strukturen im Buddhismus, die zu Missbrauch führen können", wie es ein Beobachter dem US-Medium "The Daily Beast" sagte. Für andere ist der Vorfall aber eine schmerzhafte Zäsur.

Jenseits des Begreifbaren

"Es hat die Herzen der Tibeter gebrochen", meint die feministische Forscherin Dhardon Sharling von der University of Massachusetts. Für die meisten sei das alles "jenseits des Begreifbaren". "Wir waren nicht darauf vorbereitet. Das hat teilweise damit zu tun, dass der Dalai Lama für uns ein Buddha ist und wir ihn als immun gegen Angriffe sehen."

Viele vermuten außerdem eine gezielte, aus China gesteuerte Kampagne. Der Präsident der tibetischen Exilverwaltung in Dharamsala, Penpa Tsering, vermutet, dass "prochinesische Quellen" versucht hätten, das Image des Dalai Lama zu diskreditieren. In den vergangenen Tagen konnte man auch wieder verstärkte Anti-Tibet-Aktivitäten auf Twitter, Tiktok und Co beobachten, etwa die von chinesischer Sicht aus gesteuerte Debatte über "Sklaverei" im alten Tibet.

Aufgrund der Kontroverse konnten in den vergangenen Tagen Tibeter und Tibeterinnen im von China regierten Tibet nun Bilder des Dalai Lama sehen. Peking tituliert ihn als Separatisten, sein Bild ist in Tibet eigentlich verboten. Doch trotz jahrzehntelanger Verbote bleibt der Glaube an den Dalai Lama in Tibet ungebrochen.

Und auch im Exil ist er es, der die schwierigen Realitäten der Diaspora seit Jahrzehnten zusammenhält. So kommt Kritik von tibetischer Seite kaum. In einem langen Text erwähnt der bhutanische Wissenschafter Karma Phuntsho auf Facebook, dass seine Berater vielleicht einen besseren Job hätten machen können, indem sie "auf internationale Tabus und Sensibilitäten" eingegangen wären.

"Nicht jenseits von Angriffen"

"Wir erkennen, dass der Dalai Lama verletzlich ist und nicht jenseits von Angriffen steht", erklärt Sharling. "Nun ist die Zeit gekommen, in der wir ihn beschützen müssen." Sharling hofft, dass der Vorfall ein Lernmoment über feministische Diskurse, Gender und Sexualität sein kann: In der tibetischen Sprache fehle das Vokabular, um diese Diskurse aufzugreifen. Es brauche das aber, um anzuprangern, wenn nötig, und sich zu verteidigen, wenn jemand angegriffen werde – "wie in diesem Fall", fügt sie hinzu.

Die indischen NGO Tibet Rights Collective erklärt in einer Stellungnahme, dass das "bearbeitete Video" den Tibetern "ein neues Gefühl von Zielstrebigkeit und Entschlossenheit in ihrem Kampf für Freiheit" gegeben habe. (Anna Sawerthal, 22.4.2023)