Von den Polen bis zum Äquator eine einzige Eiswüste? Die bisherigen Untersuchungen sprechen eher dagegen.

Foto: imago/Liu Shiping

Vom Weltraum aus mochte die Erde damals tatsächlich wie ein Schneeball ausgesehen haben, allerdings ein etwas matschiges, da und dort ramponiertes Exemplar und wohl nicht die durchgehend weiße Kugel, die sich manche Vertreter der "Schneeball Erde"-Hypothese vorstellen. Die Hypothese besagt, dass unser Heimatplanet vor etwa einer halben Milliarde Jahren vollständig vergletschert war, bedeckt von einem Eispanzer, der von den Polen bis zum Äquator reichte.

Diese radikale Variante einer Eiszeit ist in der Fachwelt bis heute umstritten, die Hypothese wird vielfach sogar rundweg abgelehnt. Die Kritik bezieht sich hauptsächlich auf die Tatsache, dass es nur sehr wenige und teilweise unsichere Daten gibt, die die Annahme einer völlig vereisten Erde rechtfertigen würden. Manche Studienergebnisse sprechen sogar deutlich gegen ein solches Eiskugelszenario. Immerhin stellt sich in so einem Fall auch die Frage, wie das junge Leben, gerade auf dem Sprung zur Vielzelligkeit, eine Totalvereisung überstehen konnte, ohne auf dem Entwicklungsweg weit zurückgeworfen zu werden.

Dass die Erde in der Vergangenheit mehrfach vollständig vereiste, wird mittlerweile angezweifelt.
Illustr.: Nasa/JPL-Caltech

Kalte Zeiten

Kaum bestritten ist, dass es tatsächlich handfeste Hinweise auf unbarmherzige Eiszeiten gibt, die während des sogenannten Cryogeniums (vor 720 Millionen bis 635 Millionen Jahren) ausgedehnte Regionen der Erde in ihrem Bann hielten – wie weit diese reichten, ist allerdings unklar. Glaziale Sedimentablagerungen und Spuren auf den erhaltenen Resten der damaligen Kontinente sprechen für mindestens zwei dramatische Vereisungsperioden: Sowohl die Sturtische Eiszeit, die zwei Drittel des Cryogeniums ausmacht, als auch die Marinoische Eiszeit an ihrem Ende wären Kandidaten für eine totale "Schneeball Erde"-Vereisung, glauben einige Fachleute.

Zumindest für die Marinoische Eiszeit dürfte das nicht zutreffen, wie aktuelle Forschungsdaten im Fachjournal "Nature Communications" nun untermauern. Sedimentproben aus China sprechen demnach zwar für eine "extreme", 15 Millionen Jahre dauernde Vergletscherung. Doch selbst zu den schlimmsten Zeiten sei die Erde nicht vollständig zugefroren, schreibt das Team um Huyue Song, Geobiologe an der Chinesischen Universität für Geowissenschaften.

Oasen für das Leben

"Die wichtigste Erkenntnis dieser Studie ist, dass es während der Marinoischen Eiszeit in den ozeanischen Regionen der mittleren Breiten offene Gewässer ohne Eis gab", sagte Song. "Wir sagen zwar Schneeball Erde, aber wir glauben, dass sie eher eine Art 'Matschball' war", ergänzte Thomas Algeo, Co-Autor von der University of Cincinnati. Diese "Schneematschball"-Situation könnte dem Leben dabei geholfen haben, einigermaßen ungeschoren davonzukommen.

Wäre die Meeresoberfläche weltweit zugefroren gewesen, hätten Licht, Sauerstoff und Nährstoffe nicht in die Tiefe gelangen können, was einigen Organismen das Überleben sehr erschweren würde, berichten die Forschenden. Doch die Existenz von Fossilien aus der Marinoischen Eiszeit – winzige Organismen wie Algen, die Sonnenlicht und offenes Wasser benötigen, um zu gedeihen – deute genau darauf hin. "Es muss zumindest Refugien gegeben haben, an denen diese Algen die eisigen Epochen überstanden haben", sagte Shuhai Xiao, Co-Autor der Studie, von der Virginia Tech, Blacksburg.

Verräterische Fossilien

Diese verräterischen Fossilien fand das Team in einer Schicht aus schwarzem Schiefer aus dem Shennongjia National Forest in Südchina. Die marinen Sedimentablagerungen sind reich an organischen Rückständen und stammen aus der Marinoischen Eiszeit. Neben den fossilen Algenüberresten identifizierten die Forschenden auch Stickstoffverbindungen – ein Hinweis, dass das Wasser, in dem die Algen lebten, mit Sauerstoff wahrscheinlich biogenen Ursprungs angereichert war.

Das Überraschende an der Entdeckung: Der Schiefer von Shennongjia entstand in einer Region zwischen dem 30. und dem 40. Breitengrad, also etwa auf derselben Höhe wie der Großteil des heutigen Mittelmeeres. Lange Zeit habe man die eisfreien Gebiete während der Marinoischen Eiszeit nur rund um den Äquator vermutet, meinte Song. "Doch die neuen Funde sprechen dafür, dass es auch viel weiter im Norden bzw. Süden Eislücken gegeben haben muss."

Mehrzellerevolution nach der Extremeiszeit

"Wir haben festgestellt, dass die Marinoische Vereisung dynamisch war und in niedrigen und mittleren Breiten eisfreie Wasserflächen bot", sagte Song. "Diese Bedingungen in den Oberflächengewässern könnten weiter verbreitet und nachhaltiger gewesen sein als bisher angenommen – und das dürfte auch für eine schnelle Erholung der Biosphäre nach der Marinoischen Eiszeit gesorgt haben."

Lange blieben die Meere nach dem Ende dieser frostigen Zeiten tatsächlich nicht allein den Mikroorganismen vorbehalten: An das Cryogenium schloss sich das Ediacarium an, das vor rund 600 Millionen Jahren die ersten mehrzelligen Kreaturen hervorbrachte. (Thomas Bergmayr, 22.4.2023)