"Es geht um mehr als nur um die Justiz, es geht um Israels Identität", so Israels frühere Vize-Premierministerin Tzipi Livni.
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Lange Jahre gehörte Tzipi Livni selbst der israelischen Regierung an, die Liberale war zwischen 2006 und 2014 Außenministerin und Justizministerin. Heute gehört sie zu den Speerspitzen des Protests gegen die Justizreform von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Dessen Pläne, die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs einzuschränken, hält sie für gefährlich.

STANDARD: Hätten Sie sich je vorstellen können, dass in Israel hunderttausende Menschen für die Unabhängigkeit der Justiz demonstrieren?

Livni: Es geht um mehr als nur um die Justiz, es geht um Israels Identität. Mir wurde schon auf der ersten großen Demonstration in Tel Aviv klar, dass es hier einen gewaltigen Sinneswandel gibt: Es hat stark geregnet an dem Abend, normalerweise verstecken sich die Israelis da in ihren Wohnungen. Aber an jenem Abend sind sie gekommen, haben komplett durchnässt ihre Fahnen geschwungen. Das war etwas Neues. Nach fünf Wahlen hintereinander, wo sich alles nur darum gedreht hat, ob man für oder gegen Benjamin Netanjahu ist, ging es plötzlich um so viel mehr.

STANDARD: Weil es jetzt nicht nur Netanjahu ist, sondern eine Koalition mit Rechtsextremen?

Livni: Netanjahu gibt den Extremisten alles, was sie wollen. Wir haben die Ultraorthodoxen, die gegen Frauenrechte sind und die das Rabbinat als oberste Instanz ansehen, nicht das Höchstgericht. Den religiösen Zionisten passt es nicht, dass der Oberste Gerichtshof etwas mitzureden hat bei den illegalen Dingen, die sie im Westjordanland tun. Und an der Spitze haben wir einen Ministerpräsidenten, der die Justiz delegitimieren will, weil sie einen Prozess gegen ihn führt. Als dann auch noch der Justizminister seinen Plan (zur umstrittenen Justizreform, Anm.) verkündete, schrieb ich auf Twitter, dass ich am Samstag um 19 Uhr auf dem Habima-Platz in Tel Aviv stehen werde. Und das war die erste Demo.

STANDARD: Hat die Protestbewegung gewonnen? Die Justizreform ist ja zunächst ausgesetzt.

Livni: Es ist klar, dass wir Grenzen gesetzt haben. Wohin das führen wird – keine Ahnung. Aber die Regierung hat verstanden, dass sie nicht tun kann, was sie will. Ich glaube, wir erleben gerade die Geburt eines neuen liberalen Lagers in Israel. Die Demonstranten halten die israelische Flagge hoch und sagen: Das ist auch unsere Fahne, nicht nur eure. Wir sind Zionisten, und wir glauben an Gleichberechtigung. All diese Leute, die von den Rechten als Verräter beschimpft wurden, sind jetzt stolz, Teil dieses Lagers zu sein. Man kann nicht überschätzen, wie wichtig das ist.

STANDARD: Was ist der Klebstoff, der die Protestbewegung zusammenhält? Wir wissen, wogegen sie auftritt: gegen das Abgleiten in autoritäre Zustände. Wofür sie kämpft, ist diffus.

Livni: Das sehe ich anders. Die Leute halten die Unabhängigkeitserklärung hoch und fordern gleiche Rechte für alle.

STANDARD: Die Demonstranten kämpfen zwar allesamt für Demokratie, aber verstehen sie darunter auch dasselbe?

Livni: Klar ist, dass die Regierung unter Demokratie eines versteht: die Herrschaft der Mehrheit. Unsere Antwort ist: Demokratie bedeutet, dass die Macht der Mehrheit beschränkt wird. Diese Schranken sind Menschenrechte, Bürgerrechte, Minderheitenrechte. Die Regierung sagt: "Man hat uns gewählt, also können wir tun, was wir wollen." Wir sagen: "Nein, das könnt ihr nicht." Demokratische Wahlen geben der Mehrheit eine Art Führerschein. Die Regierung kann sich aussuchen, auf welcher Straße sie fährt. Sie kann aber nicht alle Verkehrszeichen abmontieren und ohne Beschränkung losfahren.

Im von Israel annektierten Ost-Jerusalem sind zwei Menschen durch Schüsse auf ihr Auto verletzt worden. Das Leben der beiden Männer sei nicht in Gefahr, teilte der Rettungsdienst Magen David Adom mit. Die israelische Polizei erklärte, es bestehe der Verdacht auf einen "Terroranschlag". Nach dem flüchtigen Angreifer werde gefahndet.
DER STANDARD

STANDARD: Viele Netanjahu-Anhänger sagen aber, dass die Verkehrszeichen von einer abgehobenen Elite aufgestellt worden seien, dass die Zeit reif sei für neue Verkehrsregeln. Woher kommt dieses Misstrauen gegenüber der Justiz?

Livni: Israel hat keine Verfassung. Das Höchstgericht hat daher die Regierungen gezwungen, Grundrechte zu respektieren – gleiche Rechte für Frauen zum Beispiel. Der Gerichtshof hat der Armee aufgetragen, Frauen als Kampfpilotinnen zuzulassen, gegen den Willen der Armeeführung. Die Ultraorthodoxen wollten Frauen zwingen, im Bus hinten zu sitzen – und das Höchstgericht sagte Nein. Die heutige Koalition findet, dass der Gerichtshof es zu weit treibt mit der Menschenwürde.

STANDARD: Könnte man sagen, Israel leide heute an unbehandelten Kinderkrankheiten?

Livni: Ach, hören Sie auf, wir sind 75 Jahre alt. (lacht) Es ist aber so, dass Dinge, die uns bei der Staatsgründung offensichtlich erschienen, heute nicht mehr selbstverständlich sind. Alle Fraktionen haben 1948 die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben. Darin ist Gleichberechtigung verankert. Okay, das Wort "Demokratie" kommt in der Deklaration nicht vor, aber "Gleichheit" und "Freiheit" sehr wohl – also das, was eine Demokratie ausmacht. Die Religiösen haben aber zunehmend das Jüdische am jüdischen Staat als etwas Religiöses interpretiert, nicht als etwas Kulturelles. Sie verlangen, dass die Religion über allem steht – auch über Freiheit und demokratischen Grundrechten. Dieser Konflikt war immer da.

STANDARD: Der Konflikt war immer da, wurde aber nicht angesprochen?

Livni: Ja, es wurde nicht darüber diskutiert, schließlich hatten wir unsere eigenen Probleme – Krieg, Terror, vieles mehr. Zugleich hat sich Israel aber auch zu einer starken Wirtschaft entwickelt und das Gemeinsame in den Vordergrund gestellt. Jetzt plötzlich gibt es diesen Clash, und ich bin froh darüber. Ich bevorzuge eine ehrliche Debatte, statt in einem Auto zu sitzen und einfach unbemerkt an einen Ort gefahren zu werden, in dem wir uns nicht mehr wiedererkennen. All die Dinge, die unter den Teppich gekehrt wurden, kommen jetzt an die Luft.

STANDARD: Soll Israel eine Verfassung bekommen?

Livni: Man muss das Rad nicht neu erfinden. Wir haben die Unabhängigkeitserklärung von 1948. Alle Rechte stehen da drin – freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit et cetera. Mein Vorschlag ist: Machen wir diesen Teil der Deklaration doch zum Grundgesetz. Das wird dann unsere Verfassung sein.

STANDARD: Werden dann auch israelische Araber die gleichen Rechte haben?

Livni: Ich glaube, dass es möglich ist, in einem jüdischen Staat Gleichheit für Araber zu haben. Die Linie verläuft nicht zwischen denen, die Israel jüdisch, aber nicht demokratisch haben wollen, und denen, die Israel demokratisch, aber nicht jüdisch haben wollen. Es ist ein Kampf zwischen denen, die Israel als jüdischen demokratischen Staat sehen, und denen, die die demokratischen Werte aufweichen wollen und Jüdischsein als etwas rein Religiöses sehen. Das ist die wahre Spaltung. (Maria Sterkl, 22.4.2023)