Lotte de Beer auf dem Dach der Volksoper, wo die Photovoltaikanlage ab Mai ihren Vollbetrieb aufnehmen wird.

STANDARD: Corona und die Lockdowns haben vieles durcheinandergebracht, wie ist die Auslastung an der Wiener Volksoper?

de Beer: Wir sind jetzt etwa bei 85 Prozent 84 Prozent Sitzplatzauslastung in den Monaten März und April, seit September, als wir die Auswirkungen von Corona noch gespürt haben, sind es 79 Prozent. Wir merken, dass wir ein jüngeres Publikum haben, um die 22 Prozent sind unter 30 Jahre alt. Wir hatten etwa mit "Orpheus in der Unterwelt" einen richtigen Hit, obwohl man gesagt hat, Offenbach ginge nicht in Wien. Die Leute sind auch offen für Neues, Beispiel unsere Uraufführung "Die letzte Verschwörung": Da hat die Sitzplatzauslastung von knapp 73 Prozent unsere Erwartungen übertroffen. Was insgesamt die magische Grenze ist? Das weiß ich nicht, wir sind jedenfalls ambitioniert und erst am Anfang.

STANDARD: Es gab wilde Gerüchte, etwa, dass Sie früher oder später nach Amsterdam wechseln würden.

de Beer: Ich gehe definitiv nicht nach Amsterdam, das war, seit ich Wien angenommen habe, nie ein Thema. Ich bleibe hier, bin hier zuhause. Ich hoffe sehr, dass ich meinen Vertrag an der Volksoper verlängern kann. Ich glaube, in fünf Jahre kann man etwas bewirken, aber in zehn Jahren kann man wirklich etwas aufbauen.

STANDARD: Weitere lustige Gerüchte?

de Beer: Das neuste Gerücht: Ich und Staatsoperndirektor Bogdan Roščić werden das Festival in Erl übernehmen. Wahr ist, wir sind in der Findungskommission, die einen Nachfolger für Bernd Loebe sucht.

STANDARD: Ein Gerücht hat sich aber bewahrheitet. Musikchef Omer Meir Wellber wird tatsächlich auch Musikchef in Hamburg. Ist das nicht zu viel, wenn man in Wien etwas bewegen, aufbauen will?

de Beer: Ganz ehrlich: Ich kenne keinen Musikdirektor, der nur einen Job hat. Er wird dann zwei Standbeine haben, Hamburg und Wien, aber das Zentrum werden Wien und die Volksoper sein.

STANDARD: Sie können wegen 125 Jahre Volksoper eine Jubiläumssaison ausrichten. Wie wars?

de Beer: Es war inspirierend, das Ganze in dem Sinne zu planen: Woher kommen wir, wohin geht es? Man nimmt gewissermaßen historisches Material, in dem tiefste Menschlichkeit behandelt wird, gestaltet es mit Menschen von heute als Momentaufnahmen für Menschen von heute.

STANDARD: "Salome" in der Inszenierung von Luc Bondy aus Salzburg aus dem Jahre 1992? Ist tatsächlich sehr historisch …

de Beer: Die Inszenierung war nach Salzburg, London und Mailand abgespielt. Manche Inszenierungen sind aber so gelungen, dass sie es verdienen, für die Zukunft bewahrt zu werden. Unser Chefdirigent Omer Meir Wellber hatte auch eine enge Beziehung zu Luc Bondy. Und Sponsor Martin Schlaff hat gleichsam als Geburtstagsgeschenk an die Volksoper in der Jubiläumssaison diese zusätzliche Premiere ermöglicht. "Die Reise zum Mond" zeigt wiederum, dass wir ein Familienopernhaus sind und das sehr ernst nehmen. Es ist eine Zauberoper von Offenbach. Kinderchor, Jugendchor und das Opernstudio, das dank der Unterstützung von Christian Zeller entstanden ist, wirken mit: Alle Mitwirkenden sind zwischen 7 und 27 Jahre alt, wir zeigen das Potenzial des Nachwuchses.

STANDARD: "Lass uns die Welt vergessen" wiederum erinnert an die dunklen Zeiten des Nationalsozialismus...

de Beer: An der Volksoper wurde 1938 "Gruß und Kuss aus der Wachau" gespielt, eine Operette von Jara Beneš. Darauf basiert unser Stück. Bei uns finden die Proben während des Anschlusses statt. Der Eskapismus der Operette prallt auf die Realität. Man machte weiter, auch als die Nazis kamen. Viele im Team waren jüdisch, mussten flüchten oder wurden deportiert oder ermordet. Die israelische Dirigentin Keren Kagarlitsky hat das noch vorhandene Material neu orchestriert, und weitere Musik hinzugefügt. Es wird ein neues Stück sein, auch mit Musik, die damals nicht mehr gespielt werden durfte.

STANDARD: "Die lustige Witwe", ein Klassiker, der ins Heute geholt wird?

de Beer: Ich will die Wiener Operette mit interessantesten Leuten meiner Generation zusammenzubringen, also in diesem Fall mit Mariame Clément. Es geht darum, zu bedenken, dass Wien auch eine nostalgische Stadt ist, aber zu etwas Neuem verführt werden will. Mit dieser Herausforderung, die Leute mitnehmen zu müssen, kann große Kreativität entstehen. Und unser Musikdirektor Omer Meir Wellber dirigiert erstmals eine Operette.

STANDARD: Schließlich auch Puccini, seine "La rondine".

de Beer: Das ist unsere Manifesto-Produktion, Kostüme und Bühnenbild werden aus bestehenden Bühnenbildern und Kostümen recycelt. 2024 ist ein Puccini-Jahr, und das Stück erlebte an der Volksoper die deutschsprachige Erstaufführung im Beisein des Komponisten. Ich werde es inszenieren.

STANDARD: "West Side Story" inszenieren Sie auch?

de Beer: Für mich eines der wichtigsten Stücke des 20. Jahrhunderts, und ich wollte schon immer ein Musical inszenieren. Ich bin froh, dass ich Choreograf Bryan Arias einladen konnte, mit mir zu arbeiten. Die Shakespeare-Zeit, die 1950er Jahre und das Heute werden hier verbunden sein.

STANDARD: Sie inszenieren selbst zweimal in einer Saison, nicht zu viel?

de Beer: "Das ist am ökonomischsten. In meinem Vertrag ist eine Regie inkludiert, die zweite mache ich aus Freude. (Ljubiša Tošić, 23.4.2023)