Man muss sich auf dem Weg zum Titel auch ein Nickerchen gönnen.

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Astana – Es ist Partie neun dieser WM, und schon wieder kommt eine in diesem Match noch ungetestete Eröffnungsvariante aufs Brett. Ding Liren, der mit den schwarzen Steinen bislang ebenso große Probleme hatte wie sein Gegner, entscheidet sich an diesem Freitag erstmals für die Berliner Verteidigung gegen Nepomnjaschtschis erwartbare Spanische Partie.

Die Mauer

Seit der Schach-WM 2000, bei der ein noch junger Wladimir Kramnik relativ sensationell den damals als nahezu unschlagbar geltenden Garri Kasparow entthronte, ist die Berliner Verteidigung Dauergast auf Weltklasseturnieren. Denn Kramnik trieb seinen Gegner mit dem später "Berliner Mauer" geheißenen Defensivaufbau in den Wahnsinn. Kasparow gelang kein einziger Sieg gegen Kramniks Betonwall, womit er nicht allein bleiben sollte: Bis heute gilt die Berliner Verteidigung, deren Grundidee bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erforscht wurde, als erste Wahl gegen 1. e4, wenn der Schwarze nichts anderes als ein Remis erreichen möchte.

Die Eröffnungswahl seines Gegners stellt Jan Nepomjaschtschi vor eine Entscheidung: Soll er, in Führung liegend, eine der weit ausanalysierten Varianten herunterklopfen, ein schnelles Remis einfahren und damit seine Führung bewahren? Absurd wäre diese Vorgehensweise nicht, denn jedes Remis bringt ihn der Ziellinie näher. Aber weder passt so ein schnelles Weißremis zu Nepomnjaschtschis Temperament, noch wäre es angesichts der Erfolge, die die weißen Steine in diesem Match verheißen, eine kluge Wahl.

Also entscheidet Nepo sich mit 4. d3 für eine Anti-Berliner-Variante: Damit gibt Weiß den Plan einer schnellen Eroberung des Zentrums mit c3 und d4 erst einmal auf, verhindert dafür aber die frühen Abtauschoperationen, die für die Berliner Hauptvarianten charakteristisch sind.

Läuferkracher

Bald steht eine aus der Italienischen Eröffnung geläufige symmetrische Struktur am Brett, in der Weiß bestenfalls über einen minimalen Vorteil verfügt. Keine Seite kann auf die Schnelle etwas unternehmen, für beide Kontrahenten gilt es, die eigenen Leichtfiguren so gemächlich wie präzise auf ihre aussichtsreichsten Posten zu senden, bevor der eigentliche Schlagabtausch losgeht.

Für den ist spätestens nach 20 Zügen alles angerichtet, als Jan Nepomnjaschtschi seinen Läufer auf h6 hart in die schwarze Rochadestellung krachen lässt. Dort sprengt er erst einmal den schwarzen h-Bauern weg, dann eilt auch noch ein Springer herbei, um den auf f8 abgestellten Verteidigungsläufer auszuschalten.

Ding tut sich inzwischen scheinbar seelenruhig an den weißen Damenflügelbauern gütlich, als könnte ihm Nepos Truppenaufmarsch vor seinem König gar nichts. Tatsächlich hat der Chinese richtig berechnet, dass er mit den beiden präzisen Verteidigungszügen 23…Sh7! und 24…Tb5 gerade noch alles unter Kontrolle halten kann.

Knetbares Endspiel

Gelitten hat darunter allerdings die schwarze Koordination. Mit einem unerwarteten Schwenk seines gerade noch anderweitig beschäftigten Läufers auf die Diagonale a3-f8 macht Nepo sich das zu Nutze und scheint mit 26. Lc4 eine Qualität zu kassieren, für die Ding Liren allerdings einen Bauern sowie Spiel auf den weißen Feldern als Kompensation geltend machen könnte.

So weit kommt es dann aber gar nicht. Denn Nepo will Dings Turm gar nicht haben. Er tauscht lieber die weißfeldrigen Läufer ab und holt sich den zuvor geopferten Bauern zurück, womöglich in der Hoffnung, dass er im Resultat ein etwas besseres Endspiel wird kneten können.

Zu einem solchen kommt es nach weiterführenden Abtauschoperationen tatsächlich, wobei das Problem für Nepomnjaschtschi darin besteht, dass dieses trotz weißem Mehrbauern theoretisch remis ist. Mit drei gegen zwei Bauern am Königsflügel und jeweils einem Turm und Springer für beide Parteien ist einfach zu wenig Material vorhanden, um das Bauernplus in etwas Zählbares zu verwandeln. Ding weiß das, weshalb er selbstbewusst in dieses leicht schlechtere Endspiel abgewickelt hat. Und Nepo weiß es natürlich auch.

Ding hält‘s

Dass die beiden nach Erreichen der Zeitkontrolle dann trotzdem noch über zwei Stunden und ganze 42 weitere Züge am Brett verbringen, ist allein Nepos Entscheidung, und sie ist durchaus vernünftig. Schon oft sind theoretisch remise Endspiele wie dieses praktisch verloren worden. Und auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür angesichts Ding Lirens Klasse gering sein mag: Nepo demonstriert seinem Gegner damit, dass er um jedes Remis bis zum Schluss kämpfen muss und keine leichten halben Punkte erwarten darf.

Als nach 82 Zügen das Verschwinden des letzten verbliebenen weißen Bauern unmittelbar bevorsteht, stellt Jan Nepomnjaschtschi seine Gewinnversuche ein. Mit dem Remis bleibt der Russe in Führung, es steht 5:4. Auch für Ding Liren, der in den Partien sieben und acht ganze und halbe Punkte liegen ließ, ist dieses Kampfremis ein Erfolg. Der Chinese hat ein weiteres Mal demonstriert, dass er in der Lage ist, Rückschläge wegzustecken. Am Sonntag hat er mit den weißen Steinen schon die nächste Chance, den Matchscore zum dritten Mal auszugleichen. (Anatol Vitouch, 21.4.2023)