Nepomnjaschtschi fehlen nur noch zwei Punkte.

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Astana – Das Match zwischen Jan "Nepo" Nepomnjaschtschi und Ding Liren ist in eine neue Phase, die Schlussphase, eingetreten. Weil Nepo einen Punkt Vorsprung hat, bringt ihn jedes Remis dem WM-Titel näher. Gleichzeitig steigt mit jedem weiteren Unentschieden der Druck auf Ding Liren, mehr zu riskieren, um doch noch den Ausgleich zu erzielen.

Früher, lang ist's her, wurden Schachweltmeisterschaften über 24 Partien ausgetragen. Nach diesem Modus hätten die Duellanten von Astana aktuell noch nicht einmal die Halbzeitmarke erreicht, das Pünktchen Vorsprung für Nepomnjaschtschi wäre nicht mehr als eine nach vorne gereckte Nasenspitze.

Weil die Zeiten aber schon länger schnellebig geworden sind und weil Weltmeisterschaften, die sich über Monate hinziehen, nur schwer verkäuflich sind, müssen anno 2023 14 Partien genügen – was eh schon um zwei mehr als die zwölf sind, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten zur Norm geworden waren.

Schwer zu schlagen

Ding Liren wird diese zwei zusätzlichen Partien mutmaßlich recht gerne sehen. Denn während bis Runde acht die Fäuste flogen, hat sich die Temperatur in den vergangenen beiden Partien merklich abgekühlt. Beide Spieler scheinen sich mit Schwarz etwas konsolidiert zu haben und legen nun jene typische Hartnäckigkeit in leicht schlechteren Stellungen an den Tag, für die Spitzenspieler berüchtigt sind.

Partie zehn bietet dafür optimales Anschauungsmaterial: Wie von vielen Experten erwartet, kehrt Ding mit den weißen Steinen spielend zur Englischen Partie zurück, die dem Chinesen in Runde vier einen überzeugenden Sieg eintrug. Diesmal schiebt er seinen e-Bauern im 4. Zug jedoch nach e4 anstatt e3. Das sieht ein bisschen seltsam und fast wie ein Anfängerzug aus, weil Weiß damit ein hässliches Loch auf d4 verursacht. Tatsächlich handelt es sich um eine relativ junge, in den letzten Jahren aber gerade deshalb von fast allen Topsielern erprobte Mode-Variante.

Nepomnjaschtschi zeigt sich folglich wenig überrascht und bringt seinen Königsläufer auf das schöne Feld c5. Wenn Weiß jetzt nicht einfach schlechter stehen will, dann muss er mit seinem Springer auf e5 zugreifen und damit eine taktische Sequenz einleiten, an deren Ende der Weiße über mehr Platz für seine Figuren verfügt, dafür aber eine kaputte Bauernstruktur verwaltet.

Vorteil und Kompensation

Als Nepo im 9. Zug seinen Läufer nach c5 anstatt nach a5 zurückzieht und sein Gegner in tiefes Nachdenken versinkt, wird klar, dass Schwarz das Vorbereitungsduell in dieser Partie für sich entschieden hat: Wie Ding später einräumen wird, hat er sich mit dem seltener gespielten Läuferrückzug im Vorfeld nicht beschäftigt – eine Nachlässigkeit des Chinesen sowie seines Sekundanten Richard Rapport, aufgrund derer der Weiße ab Zug zehn auf sich allein gestellt ist.

Also verlegt Ding Liren sich darauf, logische Züge auszuführen und seine Initiative am Köcheln zu halten, während Nepo mit den forschen Bauernzügen 14...h4 und 15...g5 zeigt, dass er über den richtigen Plan für Schwarz in dieser Struktur keine Zweifel hat. Bald verfügt Ding über einen Mehrbauern, den Nepo ihm allerdings absichtsvoll überlassen hat: Der hässliche weiße Doppelisolani auf der c-Linie sowie die Möglichkeit, seine Figuren zu aktivieren, sind dem Nachziehenden dafür Kompensation genug.

Obwohl Weiß die ganze Partie hindurch über leichten Vorteil verfügt, sieht es nie wirklich so aus, als ob Ding Gelegenheit bekommen würde, diesen in einen vollen Punkt zu verwandeln. Für normalsterbliche Schwarzspieler wäre das Endspiel mit Minusbauer und dem permanent betreuungsbedürftigen Bauern h3 ziemlich gruselig. Der Nummer zwei der Welt bereitet die Verteidigung dagegen keine besonderen Schwierigkeiten.

Nepo bleibt vorn

Mit dem Scheinopfer 34...Lb3! leitet Nepomnjaschtschi die entscheidende Abwicklung in ein reines Turmendspiel ein, in dem der weiße Mehrbauer keinen praktischen Wert mehr besitzt. Nach 45 Zügen stehen einander dann nur noch die nackten Könige gegenüber: Mehr Remis geht nicht.

Damit bleiben Ding Liren noch vier Gelegenheiten, das Match zumindest auszugleichen und seinen Gegner in ein Tiebreak zu zwingen. Es steht 5 1/2: 4 1/2 für Jan Nepomnjaschtschi, der am Montag zum vorletzten Mal die weißen Steine führt. (Anatol Vitouch; 23.4.2023)