Remis.

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Astana – Jan Nepomnjaschtschi will, dass es jetzt bald vorbei ist. Das merkt man dem Russen, der mit einem Punkt Vorsprung in Führung liegt, zum Beispiel bei der Pressekonferenz nach Partie elf an. Da wird er von Moderatorin Keti Zazalaschwili gefragt, ob der schwierigste Teil des Matches womöglich schon hinter ihm liege.

"Das muss ein Scherz sein, oder?" fragt Nepo leicht ungehalten und will damit sagen: Der schwierigste Teil ist genau jetzt! Den mühsam erkämpften Vorsprung bei einem WM-Match ins Ziel zu bringen, ist noch härter, als eine gewonnen Partie zu gewinnen – und das gehört, wie jeder Schachspieler weiß, auf jedem Niveau zu den schwierigsten Übungen überhaupt.

Dass Nepomnjaschtschi weiß, dass ihn nur noch ein paar wenige Remisen von seinem großen Ziel trennen, beeinflusst sein Spiel spürbar. Eigentlich sind Weißpartien zum Angreifen da. Zwar will man bei einer WM nie zu viel riskieren, aber der Anzugsvorteil will doch genutzt sein, um den Gegner vor Probleme zu stellen und Chancen auf den vollen Punkt zu kreieren. Beide Kontrahenten haben das acht Partien lang mustergültig vorgeführt: Vier Mal gewann Weiß, und auch für Nepos Schwarzsieg in Partie zwei war vor allem der Versuch Dings verantwortlich, mit Weiß mehr als nur ein Remis zu erreichen.

Jetzt aber, so kurz vor der Ziellinie, ist alles anders. Zwar hat Nepomnjaschtschi gegen Dings Aufbau im Geschlossenen Spanier eine Abweichnung von der 5. Partie vorbereitet: Mit 8. a3 statt 8. c3 lenkt Nepo die Partie in einen anderen weit analysierten Seitenarm der Spanischen Partie mit frühem d3. Aber so richtig motiviert für einen langen Kampf um den vollen Punkt wirkt der WM-Führende an diesem Montag nicht.

Nachdem Ding auf einige hingeworfene positionelle Fragen, die Nepo mit seinen Zügen stellt, die akkuraten Antworten gegeben hat, willigt der Weiße bereits im 19. Zug in eine Abwicklung ein, an deren Ende – wie in Partie 10 am Vortag – ein remises Turmendspiel steht.

Nicht einmal zwei Stunden haben die Spieler für die immerhin 39 Züge dieser Partie benötigt, die damit die kürzeste des bisherigen Wettkampfs ist. Beide sind mit dem Remis zufrieden, denn für einmal decken sich, trotz unterschiedlichen Punktestands, ihre Interessen: Während das Unentschieden Jan Nepomnjaschtschi dem Matchsieg näher bringt, ermöglicht es Ding Liren, sich am morgigen Ruhetag ganz der Vorbereitung auf seine beiden verbliebenen Weißpartien zu widmen.

In einer von ihnen wird der Chinese Risiko nehmen müssen. Für seinen Gegner wird sich dann wahrscheinlich die große Chance zum Kontern ergeben, das weiß Nepo, das weiß Ding. Beiden setzt die Anspannung, die nun schon über zwei Wochen andauert, merklich zu. Die Schlussphase einer Schach-WM ist eben das Schwierigste überhaupt. (Anatol Vitouch, 24.4.2023)