Politologen und Historiker diskutieren seit dem Beginn des Aggressionskrieges gegen die Ukraine, ob das Putin-Regime ein autoritäres System geblieben ist oder sich in eine totalitäre Despotie wandelt. Es gibt Argumente für beide Thesen, die die Wissenschaft und Publizistik noch lange beschäftigen werden.

Wenn wir indessen die jüngsten Beispiele für die Kampagne zur Einschränkung der freien Berichterstattung über Russland und zur Einschüchterung der Auslandskorrespondenten betrachten, scheint diese Diskussion der Experten angesichts der aktuellen Lage fast irrelevant zu sein. Da ich mich viele Jahre mit der Medienpolitik der Ostblockländer beschäftigt habe, bin ich über die öffentlichen Angriffe und Anschuldigungen gegen zwei angesehene westliche Journalisten deshalb erschüttert, weil sie die Erinnerungen an die düstersten Zeiten der Stalin-Ära heraufbeschwören.

Wegen angeblicher Spionage verhaftet: "Wall Street Journal"-Korrespondent Evan Gershkovich.
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Was Marquis de Custine 1839 nach einer Russland-Reise schrieb, gilt bis heute: "In einer freien Gesellschaft kann alles gedruckt werden – und ist vergessen, weil man es mit einem Blick erfasst. Im Absolutismus ist alles geheim, kann aber erraten werden, das macht es interessant." Aber auch gefährlich! Vor allem für die guten Journalisten, deren Haupteigenschaft die Neugier ist und die aus oder über Wladimir Putins Russland berichten. Deshalb wurde am 29. März in Jekaterinburg der 31 Jahre alte Evan Gershkovich, akkreditierter Korrespondent des Wall Street Journal und US-amerikanischer Staatsbürger, wegen angeblicher Spionage verhaftet. Dem Sohn russischer Eltern, die zwölf Jahre vor seiner Geburt aus der Sowjetunion in die USA ausgewandert waren, drohen bis zu zwanzig Jahre Haft. Seine ausführlichen und sachlichen Reportagen kann man auf der Seite des Wall Street Journal nachlesen.

Rückfall in die Sowjet-Ära

Das Putin-Regime macht russische Kritiker mundtot; 26 Journalisten sind in Haft oder bereits zu langjährigen Strafen verurteilt. Die Verhaftung eines nichtrussischen Auslandskorrespondenten ist aber ein bedenklicher Rückfall in die Sowjet-Ära. Zuletzt wurde 1986 Nicholas Daniloff, Moskauer Korrespondent des US News and World Report, wegen des Vorwurfs der Spionage verhaftet und nach 13 Tagen im Zuge eines Gefangenenaustauschs gegen echte russische Spione ausgetauscht. Fast vier Jahrzehnte später nimmt der russische Diktator Gershkovich als Geisel, um wieder die Freilassung russischer Spione zu erpressen.

Der Fall des angesehenen Wiener Korrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), Ivo Mijnssen, zuständig auch für die Ukraine, zeigt eine besorgniserregende neue Variante der Angst der Tyrannis vor dem freien Wort. Die russische Botschaft in Bern drohte am 13. April in einer langen, aggressiven Erklärung Mijnssen mit der Verhaftung und sogar mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis sieben Jahren, sollte er nach Russland einreisen. Mit seinem Bericht über den ukrainischen Widerstand in der russisch besetzten Stadt Melitopol habe Mijnssen den "Terrorismus" gerechtfertigt. Der vom Schweizer Außenministerium sofort scharf zurückgewiesene Einschüchterungsversuch ist eine Mahnung an alle Journalisten, die über Russland schreiben. (Paul Lendvai, 25.4.2023)