"Die Auseinandersetzungen verschärfen sich. Auf dem Schlachtfeld und im öffentlichen Gespräch", beobachtet Josef Haslinger.

Foto: Heribert Corn

Theoretisch könnte diese Ausstellung alles umfassen, was in Österreich von Autorinnen und Autoren in den letzten fünfzig Jahren literarisch benannt oder verarbeitet worden ist. So könnte zum Beispiel ein Bild von Herbert von Karajan hier hängen. Immerhin war Karajan einer der Helden im folgenreichsten Gedicht, das die Zweite Republik hervorgebracht hat. Ich meine Fritz Herrmanns Gedicht "Trara trara die Hochkultur", veröffentlicht 1977.

Der Autor war ein hoher Beamter des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst. Er war der Erste, der damit begonnen hat, neben den großen Tempeln der Kultur auch nichtkommerzielle Filmprojekte und freie Theatergruppen finanziell zu unterstützen. Er hat der Kunstförderung damals einen Weg gewiesen, der heute Standard ist. Noch.

Sein Gedicht enthielt keine kunstvollen "Stanzen", sondern nur Gstanzln, aber die waren wirksam. Rolf Hochhuth musste zur selben Zeit noch eine ganze Erzählung schreiben, um den damaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg zu Fall zu bringen. Fritz Herrmann gelang es mit einem einzigen Gedicht, sich selbst zu Fall zu bringen.

Das Gedicht hat sich mittlerweile auch in meiner Erinnerung auf die Karajan-Strophe reduziert. Sie lautet:

Es scheißt der Herr von Karajan

Bei jedem falschen Ton sich an

Und wascht sein Arsch im Goldlawur

Anal sein g'hört zur Hochkultur.

Ein Bild des Maestros wäre in dieser Ausstellung schon deshalb angebracht, weil Karajans Drohung, keinen Fuß mehr nach Wien zu setzen, zur Kaltstellung von Fritz Herrmann geführt hatte. Der sozialdemokratische Minister Fred Sinowatz fuhr persönlich zum Dirigenten nach Salzburg, um sich für die Ungehörigkeit seines Mitarbeiters zu entschuldigen. Und Fritz Herrmann verließ das Bundesministerium für Unterricht und Kunst, um fortan im Burgenland Fische, Blumen und Kräuter zu züchten.

Ein Kniefall

Ich stelle mir vor, wie Fred Sinowatz dem Herrn von Karajan die Hand schüttelt und sich dabei denkt: Eigentlich sollte ich ihn bei dieser Gelegenheit fragen, warum er als junger Dirigent gleich zweimal der NSDAP beigetreten ist.

Aber er konnte ihn das nicht fragen. Nicht bei dieser Gelegenheit. Sonst hätte Wien ohne Karajan auskommen müssen.

Im Grunde eine Kabarettszene der damaligen Kulturpolitik. Aber es war natürlich auch ein Kniefall. Sinowatz wusste, wie das Match gegen Karajan in den Medien ausgehen würde. Die Kronen Zeitung hatte es ihn schon wissen lassen. Die Idee, der öffentlichen Meinung mit Regierungsinseraten nachzuhelfen, war unter Sinowatz noch nicht so ausgereift wie später unter Faymann und zuletzt, mit neuer Kreativität, unter Kurz.

Die Politik war damals klar aufgeteilt. Die Roten regieren, die Schwarzen machen Opposition und kriegen dafür in allen öffentlich kontrollierten Sektoren einen zweiten Direktor. Die FPÖ bleibt ein Sammelbecken für die Nazis, die in den beiden Großparteien nicht untergekommen sind, verhält sich aber weitgehend ruhig. Schließlich hatte sie es den Sozialdemokraten zu verdanken, dass es sie als Parlamentsklub überhaupt noch gab.

Zu kommunizieren war damals mit erheblichem Aufwand verbunden. Keine SMS, keine Mails, keine Postings. Vor dem Telefonieren hieß es oft Schlange stehen. Wer damals keine Briefe schrieb, war als Teilnehmer von der schriftlichen Kommunikation so gut wie ausgeschlossen. Um das zu verbessern, gründeten die Autorinnen und Autoren Literaturzeitschriften. Andere gründeten alternative Kulturzeitschriften wie den Falter. Auch das Wochenmagazin Profil gibt es seit den siebziger Jahren. Die Wiener Zeitung, die älteste Tageszeitung der Welt, die von der Regierung gerade abgedreht wird, wurde damals zu einem modernen Nachrichtenmedium umgebaut. Es war zwar Mief rundum, aber es herrschte auch eine Aufbruchstimmung, ein neues Kommunikationsbedürfnis, eine neue Lust, öffentlich zu widersprechen und bei der Gestaltung der Verhältnisse mitzureden.

Lust oder Zwangsneurose

Diese Lust hat sich heute ins Tausendfache vergrößert. Aber ist es wirklich noch die Lust, die sich hier auslebt, oder ist es schon eine Zwangsneurose? Vor allem ist es ein riesiges Geschäft mit dem Drang zur öffentlichen Selbstdarstellung, an dem alle irgendwie teilnehmen, das aber nur wenige kontrollieren. Deren Hauptinteresse ist es, den längst überhitzten Mitteilungsdrang weiter zu befeuern. Ihr Rohstoff sind die Userdaten, ihr Produkt ist eine quasireligiöse Aufladung der internationalen Seelenlandschaft. Die Neuen Medien erweisen sich als ein wimmelnder Götterhimmel, in dem die Neuen Mythologien nur so sprießen. Götter leben seit Menschengedenken von ihren Followern.

Der für jede Demokratie essenzielle Widerspruchsgeist ist zunehmend von Unduldsamkeit und Gehässigkeit geprägt. Das war schon im Laufe der Pandemie zu beobachten, und es verstärkt sich seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Nicht nur die Menschen, auch die Länder begegnen einander mit neuem Misstrauen. Sie rüsten auf. Eine steigende Nervosität macht sich breit. Vielleicht auch deshalb, weil im Grunde alle ahnen, dass dies die Zeit ist, in der die Länder unseres Planeten sich eigentlich zusammenschließen sollten, um ein gedeihliches Miteinander für die gemeinsamen Anstrengungen auszuhandeln, die von Tag zu Tag dringender werden.

Das nach dem Zweiten Weltkrieg in der Menschenrechtskonvention definierte Ideal des Menschenbildes scheint in immer weitere Ferne zu rücken. Würde und Wert der Menschen werden nach wie vor oder schon wieder nach nationalen, ethnischen, religiösen und sexuellen Zugehörigkeiten gemessen. Die Feindbilder, auf die sich viele schon während der Pandemie haben einschwören lassen, bekommen härtere Konturen. In der Dynamik neuer Massenbildungen gehen sie neue Koalitionen ein.

Wie kann es sein, dass Menschen, die zu uns flüchten und bei uns ihren Lebensunterhalt verdienen wollen, wie Feinde behandelt werden, die man selbst an den EU-Binnengrenzen mit militärischen Mitteln abhalten und, falls sie durchkommen, möglichst schnell wieder aus dem Land hinausekeln muss, während gleichzeitig händeringend Arbeitskräfte gesucht werden? Warum verstehen wir es nicht, den Zukunftswillen der Flüchtenden, die dafür viel in Kauf nehmen und oft ihr Leben riskieren, für unsere Gesellschaft zu nutzen?

Demokratische Teilhabe

Ständig ist vom Missbrauch des Asylrechts die Rede. Dabei ist das Asylrecht für die Armen derzeit der einzige Weg, der sie nach Europa bringen kann. Für die besser Situierten sieht es besser aus, für die Reichen gibt es gar Einladungskarten. Doch das Schlupfloch Asylrecht wird akribisch bewacht. Die Asylanträge führen zu einer oft jahrelangen Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt. Letztlich werden die Anträge in den allermeisten Fällen abgelehnt, und der Staat schafft die Menschen außer Landes, ohne ihnen je eine Chance gelassen zu haben zu zeigen, was sie können.

Um zum Nichtstun verurteilte Jugendliche von der Straße wegzubekommen, erhalten sie mit gut Glück eine Lehrlingsausbildung. Danach werden sie abgeschoben. Gut integrierte Familien, für deren Verbleib ganze Gemeinden auf die Straße gehen, werden in ihre Herkunftsländer zurückverfrachtet, nun auch unter der Regierungsbeteiligung der Grünen. Einen Überstieg von Asylwerbern in den Arbeitsmarkt will die Regierung nicht zulassen. Sie will nur eines, abschrecken. Nicht nur diejenigen, die abgewiesen werden, auch diejenigen, die bei uns bleiben dürfen, sind die Leidtragenden dieser Entwicklung. Letztlich wir alle, weil das permanente Misstrauen und die permanente Denunzierung eines Teils der Bevölkerung die eigene Gesellschaft zerstören.

In Österreich wohnen, arbeiten und Steuer zahlen zu dürfen heißt noch lange nicht, angenommen zu werden. An der Bundespräsidentenwahl des letzten Jahres konnten 1,4 Millionen Einwohner mangels Staatsbürgerschaft nicht mitentscheiden. Das sind fast 20 Prozent der Gesamtbevölkerung im wahlberechtigten Alter. In einigen Wiener Stadtvierteln ist sogar die Mehrheit von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen.

Diese Entwicklung untergräbt langfristig die Grundprinzipien des demokratischen Gemeinwesens. Anstatt über Reformen zu diskutieren, die zu einer Inklusion aller dauerhaft in Österreich lebenden Menschen führen, ergeht sich der ÖVP-Chef von Wien, Karl Mahrer, in einer billigen Polemik über die ausländischen Verkäufer auf dem beliebten Wiener Brunnenmarkt. Konkret gibt es nichts, was er ihnen vorzuwerfen hat, außer dass sie da sind. Man nennt das wohl Rassismus.

Europa als Festung

Ich komme aus dem Bundesland Niederösterreich. Ich habe dort meine Kindheit und Jugend verbracht. Niederösterreich hat es in den letzten beiden Jahrzehnten verstanden, sich das Image kultureller und künstlerischer Offenheit zu verschaffen. Die dort seit Ewigkeiten regierende Österreichische Volkspartei hat sich mit der FPÖ zusammengetan und ihr erstes Regierungsübereinkommen veröffentlicht. Darin werden "Maßnahmen" in Aussicht gestellt, um, wie es wörtlich heißt, "unser Land für die überwiegend wirtschaftlich motivierten Zuwanderer (unter Missbrauch des Asylrechts) möglichst unattraktiv zu machen". In Schulhöfen soll das Deutschsprechen obligatorisch sein, und die Wohnbauförderung wird an deutsche Sprachkenntnisse geknüpft.

Das hat die FPÖ schon einmal gefordert. Der für Schulgesetze zuständige Bund hat sich damals geweigert, den Schülern zu verbieten, in der Freizeit ihre Muttersprache zu verwenden, dies widerspreche der Menschenrechtskonvention und damit auch der Verfassung. Heute kommt die Forderung, die Menschenrechte einzuschränken, nicht länger nur von rechts außen, sondern auch vom Klubobmann der ÖVP – und die ÖVP-Landeshauptleute finden einen solchen Vorstoß durchaus überlegenswert.

Die Landeshauptfrau von Niederösterreich, Johanna Mikl-Leitner, war 2015, in der Zeit der vielen nach Europa flüchtenden Menschen, Innenministerin. Damals sagte sie: "Europa muss eine Festung werden!" Nun kann sie sich an die regionale Verwirklichung ihrer alten Träume machen, zusammen mit Landesräten, die vom Präsidenten der Jüdischen Gemeinde von Wien dem Umfeld der "Kellernazis" zugerechnet wurden. Blickt man in die politischen Biografien dieser Herren, wird man dem schwer widersprechen können.

Einer von ihnen, Gottfried Waldhäusl, hat als Asyl-Landesrat schon einmal den Festungstraum der Landeschefin zu realisieren begonnen und minderjährige Asylwerber in einem Grenzort hinter Stacheldraht und von Securityleuten bewacht unterbringen lassen. Homosexuelle bezeichnet er öffentlich als "Schwuchteln" und Wiener Schülerinnen mit Migrationshintergrund sagte er vor kurzem ins Gesicht, ohne sie wäre Wien noch Wien. Er ist nun als Zweiter Landtagspräsident einer der höchsten Repräsentanten des Bundeslandes.

Nicht nur fremde Sprachen, fremde Menschen und Corona-Impfungen sind künftig von den Niederösterreichern fernzuhalten, das Gift der Überfremdung kann sich auch durch die Esskultur einschleichen. Wörtlich heißt es im Übereinkommen: "Um die Wirtshauskultur auch in Zeiten der Teuerung zu erhalten, wird eine Wirtshausprämie erarbeitet. Voraussetzung ist, dass der neue Wirt ein traditionelles und regionales Speisenangebot aufweist."

Ich habe mich dem Protest gegen dieses Koalitionsübereinkommen angeschlossen, und ich habe, wie andere auch, von der Landeshauptfrau einen Brief bekommen. Darin beteuert sie, dass sie der festen Überzeugung sei, "dass es gerade in dieser Zeit noch wichtiger ist, für unser Land das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen". Im Grunde sehe ich das auch so, deshalb habe ich ja protestiert. Sie jedoch verteidigt das als das Gemeinsame, was eine christliche Partei von einer rassistischen Partei eigentlich trennen müsste.

Menschenleben retten

Und dazu noch der Krieg, der die in Österreich im Grunde sehr beliebte Position des außenpolitischen Zuschauers immer weniger duldet und uns herausfordert, Farbe zu bekennen. Aus aktuellem Anlass wünschte ich mir, es gäbe zu diesem Überblick über die Zeitgeschichte der österreichischen Literatur eine kleine historische Reminiszenz über das Verhalten der österreichischen, deutschen, französischen und englischen Autorinnen und Autoren nach dem Ultimatum an Serbien, das zum Auslöser des Ersten Weltkriegs wurde. Nicht weil ich unsere Situation mit der von damals gleichsetzen will, sondern weil mir scheint, dass die damaligen Hoffnungen, dass durch Krieg der Menschheit geholfen werden kann, uns erneut verfolgen – nicht nur uns Österreicher, sondern die Menschen in vielen Ländern der Erde.

Die Auseinandersetzungen verschärfen sich. Auf dem Schlachtfeld und im öffentlichen Gespräch. Wer für Waffenstillstandsverhandlungen eintritt, steht im Verdacht, dem Aggressor helfen zu wollen, und ist überdies mit dem moralischen Makel behaftet, das Opfer der Aggression im Stich zu lassen. Meines Erachtens besteht das höchste moralische Gebot immer noch darin, Menschenleben zu retten. Nur vor diesem Hintergrund sollten wir über die Wahl der Mittel diskutieren, die am besten zu einem dauerhaften Frieden führen.

Angeblich können auch Kriege helfen, ein gutes Ziel zu erreichen. Aber nur für die Überlebenden. Doch die Überlebenden werden gezeichnet sein. Wer auf Kriegsschauplätzen aufwächst, hat eine andere Welt kennengelernt, andere Werte, andere Verhaltensweisen. Und das Denken in Feindbildern bis zur bitteren Neige. Da mögen sich die realen Verhältnisse dann längst geändert haben, die Feindbilder leben fort – und gehen neue Verbindungen ein, die wiederum ihre Nachkommen hervorbringen. Ist der Krieg dann schon längst vorbei, hallt er in den Köpfen noch weiter.

Erich Fried hat in einem Gedicht das Nötige dazu gesagt:

Ich bin der Sieg.

Mein Vater war der Krieg.

Friede heißt mein lieber Sohn

der gleicht meinem Vater schon.