Das Wiener Staatsballett ist nicht nur die wichtigste Ballettcompagnie im Land, sondern zählt mit seinen mehr als hundert Tänzerinnen und Tänzern an der Staats- und Volksoper zu den fünf größten Ballettensembles weltweit. Wien hat damit ein kulturelles "Asset" mit eindrucksvoller 400-jähriger Geschichte, dessen Wert für ein bei Kulturtouristen beliebtes kleines Land wie Österreich nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Deswegen gilt ein Wechsel der künstlerischen Leitung, wie er jetzt nach Martin Schläpfers Entschluss ansteht, seinen bis Ende der Saison 2024/25 laufenden Vertrag nicht weiter zu verlängern, als kulturpolitisch nicht ganz unbedeutend. Sofort mit der Diskussion über die beste Nachfolge zu beginnen macht deswegen Sinn, weil man in einem international extrem kleinen Pool an geeigneten Kandidatinnen und möglichen Anwärtern für diese Position fischen wird.
Weltklasseniveau gefragt
Die einzige österreichische Compagnie, die auch historische Publikumshits wie Schwanensee, Giselle oder den Nussknacker in exzellenter Qualität auf die Bühne bringen kann, hat herausfordernde Aufgaben: Sie muss fähig sein, das historische Ballett mit heutigen Positionen auf Weltklasseniveau zu verbinden. Das legt nicht nur eine hohe Latte für die Tänzerinnen und Tänzer, sondern auch für den kuratorischen Auftrag der Ballettleitung.
Ebenso schwierig sind die Verteilung der Compagnie auf die Staats- und auf die Volksoper nach ihrer Zusammenlegung 2005 und die zusätzliche Verantwortung für die künstlerische Leitung der Ballettakademie der Wiener Staatsoper. Bisher lag die Wahl traditionell bei den jeweiligen Staatsoperndirektoren. Bogdan Roščić hat sich mit seiner Entscheidung für Schläpfer, der von vielen sehr geschätzt wird, um einen künstlerorientierten Akzent bemüht. An sich eine respektable Idee, mit dem Haken, dass der Blick eines Choreografen von heute vom Fokus auf die eigene Kunst verstellt werden kann.
Unter Dominique Meyer kam 2010 Manuel Legris zum Zug. Er brachte das Staatsballett – wenn schon nicht künstlerisch, so doch qualitativ – aus dem Mittelmaß seines Vorgängers Gyula Harangozó zu einer Form, die sich mit vergleichbaren Ensembles in Paris, Moskau oder London durchaus messen konnte.
Wieder zwei Compagnien?
Was lässt sich aus der bisherigen Geschichte lernen? Bisher wurde die Personalie weder ausgeschrieben noch der Entscheidungsprozess offengelegt. Auf die Frage des STANDARD, wie man sich die Wahl von Schläpfers Nachfolge vorstellen muss, sagte Roščić: "Es ist nicht ungewöhnlich, dass Opernmenschen, die solche Entscheidungen zu verantworten haben, spüren, wie sie an die Grenzen der Detailkenntnis der Ballettwelt stoßen." Daher gebe es "informelle Gespräche mit Menschen, deren Meinung mir wichtig ist." Derzeit tausche er sich mit Volksoperndirektorin Lotte de Beer aus, aber "es gibt weder eine Beraterfirma noch einen Beratungsauftrag".
Muss ein Operndirektor aber auch künftig allein die Lasten dieser Kür tragen? Die Wiener Tanzhistorikerin, Autorin und Kuratorin Andrea Amort, eine Spezialistin in Sachen Ballett, tritt für eine zeitgemäßere Lösung ein. Der Prozess der Suche nach einer neuen Leitung sollte jetzt "damit beginnen, dass man in einer Jury oder Kommission aus Fachleuten und natürlich dem Operndirektor darüber spricht, was man diesem Ballettensemble ermöglichen kann. Und dann den Job ausschreibt."
Wieder zwei Compagnien?
Und ein weiterer Punkt: Ditta Rudle, Österreichs dienstälteste Tanzjournalistin und Ballettexpertin, empfiehlt etwa, zumindest "die künstlerische Leitung der Akademie eine eigene Personalie" werden zu lassen. Das sieht auch Amort so, aber sie ergänzt auch: "Die Bespielung sowohl der Staatsoper als auch der Volksoper ist aus künstlerischen und aus organisatorischen Gründen zu hinterfragen."
Daher also ihr Vorschlag: "Es sollten wieder zwei Compagnien sein. Das würde die Tänzerinnen und Tänzer im Haus am Währinger Gürtel aufwerten." Liz King mit ihrer freien Gruppe an der Volksoper (1999 bis 2003) sei da "eine aus heutiger Sicht beinahe utopische Konstruktion" gewesen. Transparente Suche, ein plurales Auswahlverfahren und Diversität der Leitungen: Das klingt doch nach einem konstruktiven und zukunftsfähigen Ansatz. (Helmut Ploebst, 26.4.2023)