Ding Liren profitierte von einem groben Patzer Nepomnjaschtschis.

Foto: EPA/RADMIR FAHRUTDINOV

Astana – Was für eine Partie, was für ein Kampf, was für ein Match. Gerade als das WM-Duell zwischen Jan "Nepo" Nepomnjaschtschi und Ding Liren sich mit drei Remis in Folge etwas beruhigt zu haben schien, ereignet sich am Mittwoch ein weiterer dramatischer Höhepunkt. Die längste Zeit sieht es dabei so aus, als ob der mit den schwarzen Steinen spielende Nepo einen überzeugenden Sieg einfahren und seinen Vorsprung entscheidend ausbauen könnte – aber am Ende kommt alles doch noch einmal ganz anders.

Zurück nach Karlsbad

Aber der Reihe nach: Am Anfang steht eine bescheidene Eröffnung Ding Lirens. Indem der Chinese in einem Damenbauernspiel mit 3. e3 seinen schwarzfeldrigen Läufer freiwillig einsperrt, verzichtet er de facto auf jeden Versuch, Eröffnungsvorteil nachzuweisen. Stattdessen will Ding eine Spielstellung aufs Brett bekommen, die Schwarz keine Möglichkeiten für eine schnelle Auflösung der positionellen Spannung bietet.

Nepo hat sich verzockt.
Foto: EPA/RADMIR FAHRUTDINOV

Einige Züge später müssen sich die Spieler erneut mit einer Karlsbader Struktur unter den Vorzeichen vertauschter Farben auseinandersetzen. In Partie sechs hatte Ding Liren damit großen Erfolg, als sein Londoner System in ebenjene typisch asymmetrische Bauernstruktur gemündet war.

Diesmal allerdings steht Dings Läufer nicht auf f4, sondern noch auf seinem Ausgangsfeld. Erst im 11. Zug atmet der Läufer auf g5 erstmals Frischluft – um dann sogleich im Abtausch gegen den schwarzen Springer auf f6 sein Leben auszuhauchen. Damit ist in der Stellung ein weiteres positionelles Ungleichgewicht entstanden, das eine spannende Partie verheißt: Der schwarze Doppelbauer auf der f-Linie könnte in einem Endspiel zum Problem werden, und der kurz rochierte schwarze König ist eines Teils seines Bauernschirms beraubt; zugleich verfügt der Schwarze mit der halboffenen g-Linie auch über einen Schwerfiguren-Highway in Richtung weißer Monarch, was einem Angriffsspieler wie Jan Nepomnjaschtschi zupasskommt.

Nepo am Drücker

Tatsächlich ist es in der Folge bald der Nachziehende, der das überzeugendere Angriffskonzept vorzulegen vermag. Mit einer eleganten Springerumgruppierung nach h4 und dem Damenschwenk Dc7-e7-g5 zieht Nepo seine Kräfte bedrohlich vor dem weißen König zusammen.

Via 24. c4?! versucht Ding – mehr verzweifelt denn überzeugt – Komplikationen heraufzubeschwören, um Schwarz mittels Bauernopfer von seinem Aufmarschplan abzulenken. Dass Nepo den Köder mit 24...dxc4 schluckt, geht noch an. Dass er dann jedoch mit 26...b4 den Bauern ohne Not zurückgibt und der weißen Dame ganz neue Freiheiten ermöglicht, erweist sich als Bumerang.

Ja, schon richtig, in 27...Sf3!! gäbe es danach noch eine von den Computern angezeigte, lange und forcierte Gewinnvariante für Schwarz – aber weder Jan Nepomnjaschtschi noch Ding Liren haben sie gesehen, und keinem der beiden darf man angesichts der horrenden taktischen Komplexität der Stellung deshalb böse sein.

Nervenschlacht

Auch in der Folge treffen beide Spieler wiederholt nicht die besten Züge, was Kommentator Fabiano Caruana zur Feststellung veranlasst, dass es bei dieser Partie längst nicht mehr um Schach, sondern nur noch um die besseren Nerven gehe. Während die Stellungsbewertung der mitrechnenden Computerprogramme wie ein Pendel einmal hierhin, dann wieder dahin ausschlägt, setzt sich unter menschlichen Betrachtern die Einschätzung durch, dass Ding Liren dabei ist, seine Stellung zu stabilisieren und eine bereits verloren geglaubte Partie bald komplett drehen könnte.

Als Jan Nepomnjaschtschi dann mit 34...f5?? den letzten Rest seiner offensichtlich angegriffenen Nerven wegschmeißt, bestätigt sich dieser Verdacht, denn der Rest ist für Ding Liren einfach: Auf einmal ist es doch wieder der schwarze König, der dem Angriff der weißen Figuren fast schutzlos ausgeliefert ist, während die einst so bedrohlich wirkende schwarze Angriffsarmada ratlos und traurig aus der Wäsche blickt.

Nach Dings 35. Zug erkennt Nepo sofort, was er angerichtet hat, und man kann als Zuschauer in diesem Moment kaum anders, als den Russen zu bedauern: Mit zur Seite gewendetem Kopf führt er verzweifelte Selbstgespräche, beschimpft sich selbst, vergräbt den Kopf in den Armen, ist für zehn Minute sichtlich so angewidert von seiner Stellung, dass er sich nicht mehr in der Lage sieht, einen Zug auszuführen.

Alles wieder offen

Nach 38 Zügen ist es dann amtlich: Jan Nepomnjaschtschi gibt auf, womit Ding Liren dieses verrückte WM-Match zum sage und schreibe dritten Mal ausgleicht. Es steht 6:6.

Ob Nepo sich von diesem Rückschlag ein weiteres Mal unbeeindruckt zeigt und am Donnerstag mit den weißen Steinen erneut unbekümmert auf die Führung losgeht? Sollte es nach 14 Partien noch unentschieden stehen, müsste der Weltmeistertitel jedenfalls in einem Schnellschach-Tiebreak vergeben werden. (Anatol Vitouch, 26.4.2023)