360 ukrainische Kinder konnten aus Russland zurück in die Ukraine gebracht werden. Doch tausende sollen noch verschleppt sein.

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Was macht Russland mit ukrainischen Kindern, die zu Tausenden nach Russland gebracht werden? Diese Frage hat diese Woche die OSZE in Wien beschäftigt. Immerhin ist die Verschleppung ukrainischer Kinder der Tatbestand, auf dem der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs ICC gegen Russlands Machthaber Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belowa, Russlands Kinderschutzbeauftragte, basiert. Und: Es verdichten sich die Hinweise, was da vor sich geht.

Sie sei fest überzeugt davon, dass es sich bei der Verschleppung ukrainischer Kinder durch russische Stellen um eine vorab geplante Aktion handle, so eine der Co-Autorinnen eines Berichts des Humanitarian Research Labs der Universät Yale. Der Bericht wurde der OSZE vorgestellt. Eine spontane oder aus der Lage resultierende Erscheinung seien diese Verschleppungen nicht. Das machten die Logistik dahinter sowie das Ausmaß deutlich.

Indoktrination

Dem Bericht zufolge sind 6.000 Fälle von Kindesverschleppungen dokumentiert. Ausgegangen wird aber davon, dass die tatsächliche Zahl viel höher ist. Ukrainische Vertreter sprechen von 19.000 Kindern.

Unterzogen werden die Kinder laut dem Bericht einer beinharten politisch-patriotischen sowie zum Teil auch militärischen Indoktrination. Es gehe um das Brechen und den Austausch einer Identität, so einer der Autoren. Das passiere in Camps. 43 solche Lager werden in dem Bericht identifiziert. Aber auch hier gilt, was für die Zahl der Fälle gilt: Es sind wohl weit mehr.

Schwierige Recherche

Denn die Fakten sind spärlich gesät und Recherchen zu dem Thema in Russland oder den von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine unmöglich. Aber da sind viele öffentliche Statements russischer Vertreter zu dem Thema von Putin über Lwowa-Belowa abwärts bis zu Beamten, die über ihre vermeintliche Wohltätigkeit prahlen. Einer der Autoren spricht von einer "politischen Ökonomie" – von einem Klima, in dem politische Akteure aller Ebenen versuchten, sich hervorzutun. So soll Lwowa-Belowa selbst zehn ukrainische Kinder in ihrer Obhut haben.

Und es bleiben anonyme Quellen sowie die Berichte von Kindern selbst, die es zurück in die Ukraine geschafft haben. Nicht zuletzt sind da aber auch konkrete Schritte in der russischen Gesetzgebung: Ein erleichterter Zugang für Kinder aus der Ukraine zur russischen Staatsbürgerschaft sowie Änderungen in der Adoptionsgesetzgebung. Schritte, die es schwer machten, die Spur der Kinder in Russland zu verfolgen, so die Autoren des Yale-Berichts.

Chaos-Strategie

Dass das Gesamtbild verwaschen ist, deuten die Autoren dabei durchaus als Strategie. Eine Autorin nennt es ein "wohl orchestriertes Chaos". Ein Chaos, das vor allem dazu diene, die Nachverfolgung zu verwischen, wie auch westliche Diplomaten bei der OSZE bestätigen: Gäbe es die Namenslisten, gäbe es die Liste der Camps oder gar die direkten Befehle, wäre die genozidäre Absicht beweisbar. Denn die Verschleppung von Kindern zum Zweck der Indoktrination oder der Umerziehung erfüllt den Tatbestand des Genozids.

Wie eine Autorin sagt: "Wenn man will, dass Menschen verschwinden (...), ist es die beste Vorgangsweise, wenn Dokumente von A nie bei B ankommen."

Manche Kinder tauchten allerdings wieder auf. Laut dem ukrainischen OSZE-Vertreter hat Moskau 360 ukrainische Kinder wieder an die ukrainischen Behörden übergeben. Diese Zahl stünde in keiner Relation zu der Zahl an Kindern, die laufend in dieses System gebracht würden, sagte eine Yale-Autorin. Je länger die Kinder in Russland sind, desto höher das Risiko, dass sich ihre Spuren auf immer verwischen.

Oft kein Zurück

Viele Kinder stammen aus staatlichen Einrichtungen, haben aber lebende Eltern, manche sind Kriegswaisen, aber auch sehr viele kommen aus geregelten Familienverhältnissen. Die erste Station ist ein Camp. Der zweite Schritt ist die Adoption oder die Zuweisung zu einer Pflegefamilie – und ist dieser Schritt getan, gibt es so gut wie kein Zurück. (Stefan Schocher, 27.4.2023)