Das Gespräch war schon lange angekündigt, dann kam es aber doch überraschend: Im Bemühen, China auf internationaler Ebene besser zu etablieren, hat Staatschef Xi Jinping am Mittwoch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj telefoniert.

"Ich glaube, dass dieser Anruf sowie die Ernennung des ukrainischen Botschafters in China der Entwicklung unserer bilateralen Beziehungen einen starken Impuls verleihen werden", schrieb Selenskyj danach auf Twitter. Das Gespräch sei "lang und bedeutsam" gewesen. Xi kündigte seinerseits an, einen "Sondergesandten für eurasische Belange" in die Ukraine zu schicken, und warnte beide Seiten nochmals vor einer nuklearen Eskalation des Konflikts.

Wolodymyr Selenskyj und Xi Jinping: erster Kontakt seit Beginn der russischen Offensive gegen die Ukraine.
Foto: AFP/DANIEL LEAL, DMITRY ASTAKHOV

Eigentlich hatte die chinesische Führung bereits Ende März angekündigt, dass Xi mit Selenskyj telefonieren wolle. Da war der chinesische Staatschef auf Staatsbesuch in Moskau, um seine oftmals beteuerte strategische Partnerschaft mit Wladimir Putin zu pflegen. Zum Gespräch mit Kiew kam es aber aus ungeklärten Gründen nicht.

Warum Xi ausgerechnet jetzt zum Hörer griff, um seinen ukrainischen Amtskollegen persönlich zu sprechen, muss vorerst unbeantwortet bleiben. Verschiedene Motive sind denkbar. Eine Rolle dürften die Äußerungen des chinesischen Botschafters in Frankreich, Lu Faye, gespielt haben: Diesem wird vorgeworfen, in einem Interview die Souveränität der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken infrage gestellt zu haben. Dies dürfte mit der Ankündigung der Aufnahme besonderer diplomatischer Beziehungen vom Tisch sein.

Zwischen Russland und dem Westen

Für Chinas Staatschef geht es aber vor allem darum, die Rolle der Volksrepublik als neutraler Vermittler international wieder glaubwürdiger zu machen. Der schon vor Monaten vorgestellte chinesische Friedensplan für die Ukraine war sowohl von den USA als auch der EU als unzureichend kritisiert worden: Er spiele letztlich bloß Russland in die Hände. Und immer öfter wurden in den vergangenen Wochen Vorwürfe aus amerikanischen Geheimdienstkreisen laut, China liefere Waffen an Russland.

Auch innerhalb der EU ist der Ton jüngst rauer geworden. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatten bei ihren Besuchen Peking ungewöhnlich offen und hart kritisiert. Gefälliger war da für Peking der Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der die strategische Autonomie Europas betonte. Absicht des Telefonats Xis mit Selenskyj dürfte demnach auch gewesen sein, der Anti-China-Fraktion innerhalb Europas etwas Wind aus den Segeln zu nehmen.

Auf alle Eventualitäten vorbereitet sein

Ein weiterer Beweggrund könnte die bevorstehende Frühjahrsoffensive der Ukraine gewesen sein. Sollte diese unerwartet erfolgreich für Kiew verlaufen, will Peking womöglich nicht auf dem falschen Fuß erwischt werden.

Peking beteuert seit Kriegsbeginn, eine neutrale Position einzunehmen. Das Land beteiligt sich zwar nicht an den internationalen Wirtschaftssanktionen gegen Russland, versichert aber auch nach wie vor, keine Waffen an Russland zu liefern. Eine Distanzierung von Moskau ist auch aus wirtschaftlichen Gründen schwierig, nicht zuletzt weil man – zusammen mit Indien – der wichtigste Handelspartner Russlands ist.

Seit einigen Monaten ist Peking zudem bemüht, sich als Vermittler in globalen Konflikten zu etablieren. Das gelang überraschend im Fall von Saudi-Arabien und dem Iran. Beide Staaten haben kürzlich wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen.

Im Krieg zwischen Russland und der Ukraine wird eine solche Rolle vom Westen allerdings abgelehnt – bisher. Der Anruf in Kiew könnte dennoch größere Bedeutung erlangen und einen wichtigen Impuls darstellen, wie Selenskyj selbst sagte. (Philipp Mattheis, 27.4.2023)