Unter der "Zuständigkeit" von Franz Murer sank die jüdische Bevölkerung im "Jerusalem des Nordens" von 80.000 auf 600 Menschen. Trotz erdrückender Beweise wurde er freigesprochen, was zu Protesten führte.

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In Deutschland wird noch immer nach NS-Verbrechern gesucht. In den vergangenen vier Jahren wurden mindestens 29 Strafverfahren eingeleitet, vor allem ehemalige Wachleute in Konzentrationslagern sind in den Fokus der Ermittlungen geraten. Sie haben als Teil der Mordmaschinerie der Nationalsozialisten das systematische Töten von Menschen ermöglicht. Einer dieser Wachmänner wurde im Juni 2022 wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren verurteilt. Die deutschen Behörden fahnden nach den Tätern auch in Österreich, in den letzten Jahren gab es immer wieder entsprechende Anfragen.

In Österreich fanden nach 1975 keine Prozesse gegen NS-Verbrecher mehr statt. Eine Ausnahme war die Anklage gegen den Euthanasie-Arzt Heinrich Gross, der mutmaßlich für den Tod von hunderten Kindern verantwortlich war. Die Verhandlung im Jahr 2000 wurde abgebrochen, weil Heinrich Gross für nicht vernehmungsfähig erklärt wurde. Er starb 2005.

Der NS-Arzt Heinrich Gross. Nach 1945 trat er der SPÖ bei. Erst 1981 wurde er aus der SPÖ und 1988 vom Bund Sozialdemokratischer Akademiker ausgeschlossen.
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Nicht wirklich an der Verfolgung interessiert

Überhaupt war das offizielle Österreich nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages nicht wirklich an der Verfolgung von NS-Tätern interessiert. Während es in den Jahren 1945 bis 1955 28.148 Anklagen gab, die zu 13.607 Verurteilungen (darunter 43 Todesurteile, von denen 30 vollstreckt wurden) führten, waren es nach 1955 nur mehr 35 Prozesse, von denen 20 mit Schuldsprüchen endeten.

Österreich war und ist ein sicherer Hafen für NS-Verbrecher. Das zeigte sich, als im Mai 2022 die 2010 vom Justizministerium eingesetzte Arbeitsgruppe "Ausforschung mutmaßlicher NS-Täter:innen" ihren Abschlussbericht präsentierte. Spektakuläre Ergebnisse – etwa die Wiederaufnahme von Verfahren oder Prozesse gegen weitere NS-Täter – erbrachten deren Recherchen und Aktensichtungen nicht. Es wurden zwar zahlreiche Ermittlungen angeregt, aber häufig waren mögliche Täter bereits verstorben oder der Aufenthalt unbekannt. Nicht zuletzt stand oft die Verjährung im Wege.

Ungeöffnete Briefe in den Akten gefunden

Junge Erwachsene (zwischen 18 und 21 Jahren) waren bis 2015 durch eine Verjährungsbestimmung geschützt, die die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe unmöglich machte, sagte Claudia Kuretsidis-Haider von der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz.

Kuretsidis-Haider erzählt auch, dass die Arbeitsgruppe bei der Sichtung von Akten ungeöffnete Briefe fand, die an Ermittlungsbehörden adressiert worden waren und Informationen über mutmaßliche NS-Täter enthielten. Eine Anekdote, die zu dem Bild passt, das die österreichische Nachkriegsjustiz lieferte. Zusätzlich wurden Fahndungen verschleppt, Verfahren eingestellt und Mörder freigesprochen.

"Ein Paradies für NS-Verbrecher"

Im Jahr 2006 nannte Efraim Zuroff "Österreich ein Paradies für NS-Verbrecher". Der Direktor des Simon-Wiesenthal-Centers (SWC) in Jerusalem kritisierte bei einem Besuch in Wien die österreichische Nachkriegsjustiz als langsam und passiv.

Franz Murer wütete in Litauen so bestialisch, dass er den Beinamen "Schlächter von Wilna" bekam. Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch von Murer wurde schließlich 1974 vom Landesgericht Graz endgültig abgewiesen und das Verfahren eingestellt.
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Es war nicht die erste derart scharfe Kritik an der österreichischen Justiz. 1963 beschädigte ein Freispruch ihr Ansehen massiv. Trotz erdrückender Beweise wurde Franz Murer, der "Schlächter von Wilna", im Jahr 1963 von jeder Schuld an Kriegsverbrechen freigesprochen. In Wilna, dem heutigen Vilnius, sollte Murer als Vertreter des Gebietskommissariats die "Judenfrage lösen". Unter seiner "Zuständigkeit" sank die jüdische Bevölkerung im "Jerusalem des Nordens" von 80.000 auf 600 Menschen. "Murer brauchte Blut, er musste Menschen ermorden", beschrieb eine Zeitzeugin. Der spätere Bauernbund-Funktionär Murer leugnete alle Vorwürfe, seine Verteidigungsstrategie zielte darauf ab, Zeugen lächerlich und unglaubwürdig erscheinen zu lassen.

Späterer FPÖ-Bürgermeister an der Ermordung von neun Juden beteiligt

Mit einem Freispruch endete auch der Prozess gegen Richard Hochreiner. Er war Mitte Mai 1945, also nach Kriegsende, an der Ermordung von neun Juden beteiligt. Die Opfer wurden auf eine Alpe in der Steiermark von einer Gruppe fanatischer Nazis verschleppt und erschossen, nachdem sie als Zwangsarbeiter nicht mehr gebraucht wurden. Während vier Tatbeteiligte bald darauf ergriffen und vor Gericht gestellt wurden, gelang es Hochreiner ebenso wie seinem Gefährten Josef Frühwirth, unterzutauchen und vorerst unerkannt zu bleiben. 1946 wurden zwei der geschnappten Männer zu Haftstrafen verurteilt, zwei wurden hingerichtet.

Hochreiner begab sich nach Sankt Michael im Lungau im Land Salzburg, wo er zunächst unerkannt unter dem Namen Florian Riedler lebte, der FPÖ beitrat und Gemeinderat wurde. 1961 wurde er jedoch enttarnt und gemeinsam mit Frühwirth vor Gericht gestellt. Ein Geschworenengericht am Landesgericht Graz verurteilte Hochreiner am 27. Juni 1962 zu sieben Jahren schweren Kerkers, während Frühwirth drei Jahre schwere Kerkerstrafe erhielt. Am 26. November 1962 hob jedoch der Oberste Gerichtshof das Urteil gegen Hochreiner wegen eines Formfehlers auf. Am 6. März 1963 wurde er schließlich freigesprochen. Seine Vergangenheit stand später einer kommunalpolitischen Karriere nicht im Wege: Von November 1974 bis Juni 1975 wurde er mit den Stimmen von SPÖ und FPÖ zum Bürgermeister von St. Michael gewählt.

"Dr. Tod"

Andere NS-Verbrecher wie der KZ-Arzt Aribert Heim konnten völlig ungeschoren davonkommen. Heim diente zwischen Juli und November 1941 im Konzentrationslager Mauthausen, wo er Häftlinge mit brutalsten Methoden quälte. Berüchtigt war er unter anderem dafür, seinen Opfern Giftspritzen direkt ins Herz zu injizieren. Außerdem führte er Operationen an Häftlingen ohne Betäubung durch. Zeitzeugen erinnern sich an ihn als den "Schlächter von Mauthausen" oder "Dr. Tod".

Behörden wussten über Jahre, wo Heim wohnte und arbeitete. Das zeigen Akten des Innenministeriums.
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Bis 1962 lebte Heim vollkommen unbehelligt in der Bundesrepublik Deutschland. Nach der Entlassung aus der US-amerikanischen Kriegsgefangenschaft 1947 arbeitete er zunächst in einer Saline bei Heilbronn und kehrte 1949 endgültig in sein bürgerliches Leben zurück und arbeitete als Arzt. Akten des österreichischen Innenministeriums, die im Staatsarchiv aufbewahrt werden, zeigen, dass die Behörden ab dem Jahr 1949 auch wussten, wo Heim wohnte und arbeitete.

Fahndungsfoto von Aribert Heim.
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Erst 1957 wurde das erste Verfahren vom Landesgericht Linz gegen ihn eingeleitet. Kurze Zeit später nahm auch die Staatsanwaltschaft in Baden-Baden Ermittlungen gegen Heim auf und erließ am 13. September 1962 einen Haftbefehl. Am selben Tag tauchte der KZ-Arzt unter. Danach lebte er offenbar bis zu seinem angeblichen Tod im Jahr 1992 in der ägyptischen Hauptstadt Kairo und bestritt sein Leben mit Mieteinnahmen eines Hauses in Berlin, die ihm seine Schwester schickte.

Österreich verweigerte Auslieferung

Neben Heim fand sich auf der Liste der meistgesuchten NS-Verbrecher des Simon-Wiesenthal-Centers auch Milivoj Ašner, der 2011 in Klagenfurt starb. Die kroatische Justiz hatte Ašner im Jahr 2004 wegen der Verfolgung und Deportation hunderter Serben, Juden sowie Sinti und Roma im Zweiten Weltkrieg angeklagt. Österreich verweigerte die 2005 beantragte Auslieferung mit der Begründung, Ašner sei wegen schwerer Demenz nicht verhandlungsfähig.

Ašner wurde am 21. April 1913 im slawonischen Daruvar geboren. Im Mai 1941 wurde er Polizeichef der Region Pozega. "Am Tag nach seiner Ernennung sei mit der Deportation von Juden begonnen worden, entsprechende Dokumente habe Ašner persönlich unterzeichnet. Ašner hat die jüdische Gemeinde von Pozega zerstört", fasste der Historiker Alen Budaj seine Erkenntnisse zusammen. Ašners Ablöse als Polizeichef Anfang 1942 soll erfolgt sein, weil er in die eigene Tasche gewirtschaftet habe. In den letzten Kriegswirren gelang ihm die Flucht nach Österreich, 1946 erhielt er die österreichische Staatsbürgerschaft.

Jörg Haider: "Ein Klagenfurter Bürger, der friedlich bei uns lebt"

Internationales Aufsehen erregte der Fall Ašner im Sommer 2008, als ein Reporter des britischen Boulevardblatts "The Sun" Ašner in Klagenfurt aufspürte. Er sei durch die Fanmeile der Fußball-Europameisterschaft spaziert und habe einen rüstigen und geistig klaren Eindruck gemacht, berichtete der Journalist. In einem Interview soll sich Ašner sogar zu einer Aussage vor einem kroatischen Gericht bereiterklärt haben. Kritiker sahen darin einen weiteren Beleg für die angebliche Nachlässigkeit der österreichischen Justiz bei der Verfolgung von Nazikriegsverbrechen. Rückendeckung erhielt Ašner vom Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider (FPÖ, BZÖ), der von einer "netten Familie" sprach. Ašner sei ein "Klagenfurter Bürger, der friedlich bei uns lebt". Er solle "seinen Lebensabend bei uns verbringen dürfen".

Um der damaligen Kritik die Spitze zu nehmen, zog die österreichische Justiz auch ausländische Gutachter zurate. Das letzte Gutachten über Ašner stammt aus dem Jahr 2009. Damals bestätigte der Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie am Klinikum München, Norbert Nedopil, die frühere Einschätzung seiner österreichischen Kollegen.

2006 nahm Ašner auch am berüchtigten Ulrichsbergtreffen in Kärnten teil.

Im Sommer 2008 spürte ein Reporter des britischen Boulevardblatts "The Sun" Ašner in Klagenfurt auf.
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Neben ehemaligen SS-Männern gaben sich am Ulrichsberg über Jahrzehnte auch ehemalige Wehrmachtsangehörige, schlagende Burschenschafter, Neonazis, Trachtenvereine, Landsmannschaften, Exekutive, Zollwache, Feuerwehren, Pfadfinder und Kärntner Chöre ein Stelldichein. Dazu gesellten sich hochrangige Politiker der FPÖ, SPÖ und ÖVP sowie das Bundesheer, das neben Rednern und Militärmusik auch einen Shuttledienst für jene Besucher und Besucherinnen bereitstellte, die nicht mehr gut zu Fuß waren. Nachdem sich im Jahr 2009 das Bundesheer zurückgezogen hat, ist das Treffen nur mehr ein Schatten seiner selbst.

Ex-SS-Mann flüchtete nach Westdeutschland

Auf dem Ulrichsberg war auch Sören Kam zu finden. 1995 geriet Kam in die Schlagzeilen, nachdem seine Teilnahme an einem Treffen mit SS-Veteranen gefilmt worden war. Bei einer Ausstrahlung des Filmberichts in der ARD wurde Kam von dänischen Zuschauern erkannt. Kam hatte 1943 zusammen mit zwei Helfern einen dänischen Journalisten getötet. Ein mutmaßlicher Mittäter Kams wurde 1946 in Dänemark hingerichtet, der Ex-SS-Mann flüchtete nach Westdeutschland. Dort wurden die Vorwürfe in den vergangenen Jahrzehnten zwar untersucht, es kam jedoch nie zu einem Gerichtsurteil. 2007 wurde ein Verfahren wegen Verjährung eingestellt, da das Oberlandesgericht München die Tat aufgrund der Aussagen Kams nicht als Mord, sondern als Totschlag gewertet hatte.

Der Ulrichsberg ist eine Kultstätte für ehemalige SS-Männer.
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Kam besaß seit 1956 die deutsche Staatsbürgerschaft. Er stand auf der Liste der zehn meistgesuchten Nazikriegsverbrecher des Jerusalemer Simon-Wiesenthal-Zentrums. (Markus Sulzbacher, 6.5.2023)

Update 7.5. 2023: Da nicht eindeutig belegt ist, dass Franz Murer bei der SS war, wurde der Artikel dementsprechend geändert – Hinweise auf seine SS-Mitgliedschaft entfernt. (sum)