Im Gastblog zeigt Robert Pichler an einem Beispiel den Umgang Albaniens mit den Schrecken seiner kommunistischen Vergangenheit. Dieser Beitrag ist der vierte Teil einer Reihe zur Vjosa, dem letzten Wildfluss Europas. Der erste Teil ist hier zu finden, der zweite Teil hier, und der dritte Teil kann hier nachgelesen werden.

Meine beiden Reisen an die Vjosa führten immer über Tepelena, einer Kleinstadt auf einem Hang über der Vjosa gelegen, von wo aus Wege in den Süden (nach Griechenland über Gjirokastra), in den Südosten (entlang der Vjosa), in den Westen (entlang des beeindruckenden Nivica-Canyons) und nach Norden (nach Tirana, Vlora und Durrës) führen. Bekanntheit erlangte Tepelena vor allem durch Ali Pasha (1741 bis 1822), der in einem Dorf nahe der Stadt geboren wurde und zu Beginn des 19. Jahrhunderts seinen Herrschaftsbereich über Südalbanien, Thessalien, Epirus bis nach Westmakedonien ausweitete. Aufgrund seiner Autonomiebestrebungen und seiner Unterstützung der griechischen Unabhängigkeitsbewegung wurde er vom Sultan geächtet, 1822 gefangengenommen und getötet.

Eine Büste von Ali Pasha auf der Festungsanlage in Tepelena.
Foto: Robert Pichler 2021

Das berüchtigte Internierungslager in Tepelena

Abgesehen von seiner exponierten Lage und seiner historischen Bedeutung erlangte Tepelena Ende der 1940er Jahre den Ruf eines berüchtigten Verbannungsortes. 1949 wurde im Norden der Stadt am Zusammenfluss von Bënça und Vjosa eines der berüchtigtsten Internierungslager des albanischen Kommunismus eingerichtet. Viele Insassen waren Angehörige der machthabenden Elite der Vorkriegszeit. Zudem waren in Tepelena überdurchschnittlich viele Frauen und alte Menschen interniert, die meist aus Nord- und Mittelalbanien stammten.

Das Lager zeichnete sich durch eine besonders unmenschliche Behandlung der Insassen aus. Überlebende berichten von katastrophalen Bedingungen, chronischer Unterernährung, ausbleibender medizinischer Versorgung trotz mehrerer tödlicher Krankheiten, von Erfrierung im Winter und vom Erschöpfungstod als Folge von Zwangsarbeit und Hunger.¹

Es gibt keine Foto- oder Filmaufnahmen vom Internierungslager in Tepelena. Einer der Insassen, Lek Pervizi, hat Zeichnungen angefertigt, die Einblick in die Wohn- und Lebensbedingungen in den Barracken geben.²
Illustration: Rradhet e Ferrit (Die Kreise der Hölle) von Lek Pervizi (http://www.radiandradi.com/si-u-krijuan-dhe-si-funksionuan-kampet-e-internimit-ne-diktaturen-komuniste-ne-shqiperi-nga-lek-pervizi/)

Besonders infam war die Internierung von Kindern, die mit ihren Eltern und Großeltern und mitunter sogar alleine ins Lager gesperrt wurden. Man schätzt, dass circa 300 Kinder und ungefähr so viele Erwachsene aufgrund von Mangelernährung, Seuchen und fehlender Gesundheitsversorgung, durch Minen oder bei der Zwangsarbeit umgekommen sind.³

Wie Überlebende berichten, wurden die Toten vor dem Eingang des Lagers bestattet. Viele Gräber waren aber so notdürftig errichtet, dass sie bei Starkregen von Wasser unterspült wurden und die Überreste der Toten freigaben. Auf Anweisung des von 1944 bis 1985 herrschenden Langzeitdiktators Enver Hoxhas, der den Anblick des Gräberfeldes als schändlich empfunden haben soll, wurde der Friedhof beseitigt. Die Lagerleitung wies die Angehörigen an, die Überreste ihrer verstorbenen Verwandten umzubetten. Diejenigen, die dazu noch in der Lage waren, bestatteten ihre Verwandten an der Bënça-Brücke. Die übrigen Gräber wurden von einem Bulldozer platt gemacht. Bis heute lässt sich die Identität der dort Verscharrten nicht bestimmen. Die sterblichen Überreste der am Ufer der Bënça Bestatteten wurden hingegen mit der Zeit von den immer wiederkehrenden Fluten des Flusses mitgenommen. Ihre Gebeine landeten in der Vjosa, die so zum Grab Hunderter Opfer des Kommunismus wurde.

Umgang mit dem Erbe des kommunistischen Terrors

Mittlerweile wurde das ehemalige Arbeitslager in Tepelena zu einer Gedenkstätte umgewidmet. Tepelena sollte zu einem Musterprojekt ausgebaut werden, zu einem Modell für alle Zwangsarbeitslager in Albanien, um eine selbstkritische Vergangenheitsaufarbeitung zu befördern. Es sollte ein Gedächtnis- und Museumsort werden, an dem der Opfer der kommunistischen Verfolgung gedacht und die Mechanismen von Unterdrückung und Gewalt offengelegt würden. Vor allem für die neue Generation, für all jene, die nach der Diktatur geboren wurden und kaum noch einen Bezug zu dieser Zeit herstellen können, sollte das Lager ein Mahnmal sein, damit sich solche Verbrechen nicht mehr wiederholen können. Umgesetzt werden sollte dieses Projekt im Zeitraum 2017 bis 2021, so zumindest sah es das Regierungsprogramm vor.⁴

Als ich das Lager im Herbst 2021 erstmals besuchte, war von all diesen Vorhaben nur sehr wenig zu sehen. Nur mit Hilfe meines albanischen Gastgebers war ich in der Lage, das Lager überhaupt zu finden. Es gibt kein Hinweisschild, keine Tafel oder einen sonstigen Verweis, der auf die Existenz des Lagers aufmerksam machen würde. Die Zufahrt, von der Hauptstraße kommend, ist nur mit einem geländegängigen Auto möglich, obwohl das Lager nur gute 500 Meter von der Ausfahrtsstraße entfernt liegt. Man kommt an einem Sportplatz vorbei, an neu errichteten Häusern und verfallenden Barracken und stößt dann an einen Gebäudekomplex, der immer noch mit Stacheldraht umgeben ist. Erreicht man dann den Eingang, tut sich ein wahrlich bizarres Bild vor einem auf.

Das erste, das man sieht, wenn man das Tor öffnet, ist eine Schar von Hühnern und Gänsen, die gackernd und schnatternd auf einen zukommt. In den ehemaligen Kommandoräumen, die im Erdgeschoss noch einigermaßen intakt sind, hat eine Kuh ihr Zuhause gefunden.

Eingang zum ehemaligen Internierungslager Tepelena.
Foto: Robert Pichler 2021
Die Lagergebäude dienen nun als Unterstand für Kühe, Hühner und Gänse.
Foto: Robert Pichler 2021
Das ehemalige Kommandogebäude des Internierungslagers Tepelena.
Foto: Robert Pichler 2021
Das Wasser zur Bewässerung der Zypressen wird für landwirtschaftliche Zwecke genutzt.
Foto: Robert Pichler 2021

Eine undichte Wasserleitung führt in die Mitte des ausgedehnten Platzes, wo 300 Zypressen in Erinnerung an die 300 im Lager verstorben Kinder gepflanzt wurden. Neben dem Zypressenwald steht eine Gedenktafel, die die Lagergeschichte erzählt und Angaben macht über die Zahl der Opfer. Wie mir zwei ältere Damen aus der Nachbarschaft erzählen, wurde das Lager bisher nur bei Veranstaltungen besucht, wenn Überlebende, NGOs, Kunstschaffende und Institute, die sich mit der Lagergeschichte und den Opfern kommunistischer Gewalt befassen, zusammenkommen, um sich auszutauschen, an die Schrecken zu erinnern und an die Regierung und die Öffentlichkeit zu appellieren, den Kampf gegen das Vergessen nicht aufzugeben.

Warum diese Vernachlässigung und dieses Schweigen?

Es hat einige Zeit gedauert, bis man sich in Albanien mit dem kommunistischen Terror, den Gefängnissen, Arbeits-, Straf- und Internierungslagern, den Tätern und Opfern, den Verbrechen, den Traumata und den Folgen der Gewalt zu beschäftigen begann. In den ersten 20 Jahren nach der Wende passierte dahingehend fast nichts. Abgesehen von materiellen Entschädigungen der anerkannten Opfer gab es kaum eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kommunismus. Auch die Orte des Terrors, die Gefängnisse und Lager, waren dem Verfall ausgesetzt. Nach Spaç etwa, dem berüchtigten Straflager für politische Gefangene im Norden Albaniens, war es kaum möglich hinzugelangen, weil sich niemand um die Zufahrtsstraße kümmerte. Das einzige, das an die Lagergeschichte erinnerte, war ein Denkmal vor dem Gebäudekomplex. Die wenigen autobiographischen Zeugnisse, die aus der Perspektive Betroffener Einblicke in diese grauenvolle Zeit gaben, fanden international größere Beachtung als im Land selbst.⁵

Graffiti erinnern noch an die Zeit der Diktatur.
Foto: Robert Pichler 2021

Die Gründe für dieses lange Schweigen waren unterschiedlicher Natur. Zunächst verlief die Phase der Transition in Albanien ungemein turbulent, die Einschnitte waren sehr tief, die Ökonomie kollabierte, der Staat zog sich aus dem Leben der Menschen weitgehend zurück, für viele war Migration die einzige Möglichkeit, ihr Überleben zu sichern. Hinzu kam, dass die neue politische Führung, die sich das Attribut "demokratisch" verlieh, tief in der kommunistischen Herrschaftsmentalität verankert blieb. Weder gab es in Albanien eine Dissidentenkultur, noch gab es Rückkehrende, die ihre Erfahrungen mit Demokratie, Marktwirtschaft und Zivilgesellschaft in das politische Leben einfließen lassen hätten können. Unter diesen Bedingungen fanden die Initiativen der Überlebenden der Gefängnisse und Lager nur wenig Gehör.

Im Internierungslager Tepelena.
Foto: Robert Pichler 2021

Erst in den letzten Jahren ist etwas Bewegung in die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit gekommen. 2010 wurde das Institut für die Erforschung Kommunistischer Verbrechen und ihrer Folgen in Tirana gegründet, das staatlich gefördert wird und eine rege Publikations- und Ausstellungstätigkeit vorzuweisen hat.⁶ 2014 wurde das Institute for Democracy, Media and Culture (IDMC) gegründet, das enorme Verdienste bei der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit hat.⁷ In Ermangelung eines staatlichen Gedenktages organisiert das IDMC alljährlich einwöchige Memory Days, die sich der kritischen Auseinandersetzung mit der kommunistischen Zeit widmen.⁸ 2015 wurde ein Gesetz erlassen, das die Öffnung und Freigabe der Akten des Geheimdienstes für alle Opfer der politischen Verfolgung möglich machte. Obwohl viele heikle Akten bereits 1991 vernichtet worden waren, war dieser Gesetzeserlass – der sich am deutschen und tschechischen Modell orientierte – ein wichtiger Schritt.⁹ Darüber hinaus wurden mehrere Museen eröffnet, wie Bunk'Art 1 und 2 in den unterirdischen Räumlichkeiten der ehemaligen Nomenklatura sowie The House of Leaves – so genannt wegen der Kletterpflanzen an seiner Fassade – im Gebäude des ehemaligen Hauptquartiers des Geheimdienstes Sigurimi in Tirana, das an die Mechanismen der Überwachung und der psychischen Gewalt erinnert. In Shkodra, dem urbanen Zentrum des Nordens, entstand in einem vormaligen Gefängnis ein Museum, das auf konzeptionell und kuratorisch hohem Niveau an die kommunistische Verfolgung erinnert.¹⁰

Verfallene Baracken im Internierungslager Tepelena.
Foto: Robert Pichler 2022

Dass das Lager in Tepelena trotz großer Vorsätze derart vernachlässigt wurde, steht unter anderem mit der geographischen Distanz zu Tirana in Zusammenhang. Tepelena ist schlicht zu abseits gelegen, um von der Hauptstadt aus eine koordinierte Aufbauarbeit leisten zu können. Kritische Stimmen monieren aber auch, dass zwischen den wenigen Organisationen, die sich mit Vergangenheitsbewältigung befassen, große Konkurrenz herrscht. Es geht auch hier um knappe Ressourcen, um Einfluss und um Strategien im Umgang mit der Vergangenheit, die durchaus umstritten sind. Hinzu kommt, dass es auch von Regierungsseite kein klares Commitment zur Aufarbeitung der Verbrechen des totalitären Regimes gibt. In Tepelena selbst haben wenigen Menschen, die nicht weggegangen sind, mit grundlegenden Problemen des Alltags zu kämpfen.

In einer der Baracken des Lagers.
Foto: Robert Pichler 2021

Andere ehemalige Gefängnisse, Arbeits- und Internierungslager, etwa in der Umgebung von Lushnja, fallen ebenso dem Vergessen anheim. Auch dort gibt es, trotz der Initiativen ehemals Internierter und einzelner Aktivisten und Aktivistinnen, kaum öffentliche Unterstützung für die Errichtung von Gedenk- und Gedächtnisorten, die so wichtig wären für die Jungen im Land, die kaum etwas wissen über die so prägende kommunistische Geschichte ihres Landes. Man kann nur hoffen, dass die Verantwortlichen des Vjosa-Nationalparkprojekts diesen Teil der Geschichte in ihre Planungen integrieren, damit das Internierungslager in Tepelena zu einen würdigen Museums- und Gedächtnisort werden kann. (Robert Pichler, 28.4.2023)