Gardesoldaten des Bundesheers.

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Karl Nehammer, Kanzler und Milizoffizier, fühlte sich sichtlich wohl vor der Kulisse. Flankiert von Panzern, Soldaten und zwei Parteikollegen, Verteidigungsministerin Klaudia Tanner und Finanzminister Magnus Brunner (alle ÖVP), war er in die Roßauer Kaserne gekommen, um erfreut zu verkünden: Das Heeresbudget wird erhöht – deutlich: 2023 wird es 680 Millionen Euro zusätzlich geben, das ist ein Plus von 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Bis 2032 sind Investitionen von 16,6 Milliarden vorgesehen. So etwas habe er in seinem Soldaten- und Politikerleben noch nicht erlebt, sagte Nehammer damals. "Die jahrzehntelange Durststrecke ist beendet", pflichtete Tanner ihm bei.

Das war im Oktober des Vorjahrs, als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bereits seit acht Monaten tobte. Die Invasion hat die Bedrohungslage für Europa verändert, und damit auch die Sicherheitsarchitektur der Nachkriegszeit auf dem Kontinent. Der Investitionsrückstau im Heer ist enorm, die neue Einkaufsliste lang. In allen Bereichen sind Neuanschaffungen oder Modernisierungen geplant. Der stets als Messgröße herangezogene Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt soll 2023 ein Prozent betragen, langfristig dann 1,5 Prozent. Die Finanzierung soll per Gesetz für die nächsten zehn Jahre gesichert werden.

Militär statt Hochwasserarmee

Die neue geopolitische Lage erfordere eine Neuorientierung, befindet man im Verteidigungsressort: Soldaten und Soldatinnen sollen sich in Zukunft auf genuin militärische Aufgaben konzentrieren statt auf Katastrophen- und Hilfseinsätze. Aber wie die österreichische Version der "Zeitenwende", wie sie in Deutschland genannt wird, genau aussieht, ist noch offen: Denn die Neutralität wird hinter vorgehaltener Hand als Risiko bezeichnet, offiziell aber nicht angerührt.

Neue verteidigungspolitische Ansätze wurden seither in einer Reihe von Dokumenten festgehalten – oder sollen es demnächst werden: in der "Sicherheitsstrategie", im "Streitkräfteprofil", im "Risikobild". Das jüngste und detaillierteste Papier ist der Landesverteidigungsbericht des Heeresressorts. Vergangene Woche präsentierte Ministerin Tanner den Bericht gemeinsam mit Generalstabschef Rudolf Striedinger und dem Chefstrategen des Bundesheeres, Generalmajor Bruno Hofbauer. Er enthält strategische Lageeinschätzungen und Investitionspläne, soll in Zukunft jährlich aktualisiert und stets an die jeweilige Bedrohungslage angepasst werden. Hofbauer gab das Ziel so vor: "evolutionäre Entwicklung". Das Bundesheer solle sukzessive, "mit laufendem Motor", auf Vordermann gebracht werden.

Neue Bedrohung, neue Doktrin

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine habe konventionelle Bedrohungen auch für Österreich wahrscheinlicher gemacht – auch das steht in dem Bericht. Die noch größere Gefahr gehe aber von sogenannten subkonventionellen Bedrohungen aus: Cyber- oder auch Drohnenangriffen etwa, sowohl durch staatliche als auch durch nichtstaatliche Akteure.

Der Republik soll nun eine neue Sicherheitsdoktrin verpasst werden, kündigte die Regierungsspitze Anfang April an. Die aktuell gültige ist zehn Jahre alt, Russland wird darin noch als "wesentlicher Partner" bezeichnet. Die neue Doktrin soll noch in dieser Legislaturperiode, die planmäßig bis Herbst 2024 läuft, verabschiedet werden. Die Opposition will in die Pläne eingebunden werden und fordert baldige Debatten im Parlament.

"Brückenbau-Funktion"

Inhaltliche Details sind noch keine bekannt, so viel aber wurde bereits versichert: Österreichs Neutralität wird darin zentraler Bestandteil bleiben. Es gelte, die Neutralität "weiterzuentwickeln", sagte Vizekanzler Werner Kogler (Grüne). Innerhalb der EU habe sie weniger Bedeutung, außerhalb hingegen sei sie wichtig für Österreichs Rolle als "Mittler", erklärte Nehammer. Der Kanzler hat Diskussionen über die Neutralität schon vor Monaten eine Absage erteilt.

Er halte die Neutralität für einen wichtigen Teil der neuen heimischen Sicherheitsstrategie, sagte Nehammer auch beim jüngsten "Kanzlergespräch", einem regelmäßigen Hintergrundgespräch mit Journalistinnen und Journalisten, an dem auch DER STANDARD teilnahm. Österreich erfülle damit eine "Brückenbau-Funktion" und leiste als "Türöffner in den europäischen Raum" einen besonders wertvollen Beitrag. Gerade im Gespräch mit Drittstaaten sei der neutrale Status ein Vorteil, weshalb man daran nicht rütteln solle.

Keine Insel der Seligen

Dabei gab es schon vor dem Krieg in der Ukraine kaum Bündnisfreie mehr in der EU. Seit dem Nato-Beitritt Finnlands (vollzogen) und Schwedens (geplant) haben außer Österreich nur mehr Irland, Malta und Zypern diesen Status, drei Inseln also und ein Land, das lange den Mythos gepflegt hat, eine Insel der Seligen zu sein. Politikwissenschafterin Velina Tchakarova sagt, es sei eher eine "Insel der sicherheitspolitischen Realitätsverweigerer". Tchakarova war bis vor kurzem Direktorin des Austria Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik in Wien. Sie hat zwei offene Briefe unterzeichnet, die auch zahlreiche weitere Expertinnen, Unternehmer und Politiker unterschrieben haben.

Darunter sind so prominente Köpfe wie die früheren österreichischen Verteidigungsminister Herbert Scheibner (FPÖ) und Friedhelm Frischenschlager (FPÖ, heute Neos), der EU-Parlamentarier Othmar Karas und Ex-Nationalratspräsident Heinrich Neisser (beide ÖVP), die einstige Höchstrichterin Irmgard Griss oder der Direktor der Diplomatischen Akademie, Emil Brix. Sie alle fordern ein breiteres Umdenken und kritisieren die "Illusion, Österreich könne so bleiben, wie es ist, sich heraushalten und mit etwas mehr Geld für das Heer das Auslangen finden".

"Verstärkte Kooperation" gefordert

Aber auch aus dem Bundesheer selbst kommt Bewegung in die Neutralitätsdebatte: Die Österreichische Offiziersgesellschaft, kein ganz unwesentlicher Verband innerhalb der Streitkräfte, hat in ihrem Positionspapier 2023 jüngst eine "ergebnisoffene Analyse über die bestmögliche sicherheits- und verteidigungspolitische Ausrichtung" und eine Debatte "ohne ideologische Einschränkungen und populistische Vereinfachungen" gefordert. Österreich sei "keine sicherheits- und verteidigungspolitische Insel, sondern liegt inmitten eines sich dynamisch verändernden Europas", schreiben die Offiziere. Und: Man fordert zumindest eine "verstärkte Kooperation mit internationalen Partnern". Denn: Es stehe Österreich nicht gut an, sicherheitspolitischer "Trittbrettfahrer" zu sein, sich also ohne Gegenleistung auf Schutz der Nachbarstaaten zu verlassen.

In der aktiven Politik stellt dagegen niemand Österreichs neutralen Status in Frage, weder die Regierung, noch die Opposition. Öffentlich trauen sich nur Ex-Politiker an der Neutralität zu rütteln. Warum das so ist? Zumindest einen wesentlichen Teil der Antwort liefern die Meinungsumfragen. Denn dort spricht sich regelmäßig eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung für die Beibehaltung der Neutralität aus. In einer erst diese Woche veröffentlichten Gallup-Befragung waren es 77 Prozent. Heißt: Wer eine Abschaffung der Neutralität fordert, hat damit politisch nichts zu gewinnen.

Verteidigungsministerium sieht "Risiko"

Am weitesten gehen die Neos, sie wollen die Neutralität zumindest hinterfragen und diskutiert sehen. Die Auslegung, was militärisch mit ihr vereinbar ist, erscheint durchaus flexibel. Österreich beteiligt sich an internationalen Einsätzen der Uno, etwa im Kosovo, und kooperiert vielfach mit der Nato sowie bilateral mit allen europäischen Staaten. Im Juli will die Regierung den Beitritt zum geplanten "Sky Shield"-Luftabwehrsystem mehrerer europäischer Länder fixieren. Wer sich in Sicherheitskreisen umhört, erhält immer dieselbe Antwort auf die Frage, wo die Grenze verlaufe: Das könne einem in Wahrheit niemand sagen. Denn zu jeder Frage werde man von Verfassungsjuristen und Völkerrechtlern unterschiedliche Einschätzungen bekommen.

Dass sich die Neutralität gar zu einem "Risiko" entwickeln könnte, hält man unterdessen sogar in einem internen Bericht des Verteidigungsressorts fest, der jüngst der "Presse" zugespielt wurde. Der Staat sei nur eingeschränkt strategiefähig, wird im vertraulichen "Risikobild 2032" gewarnt. Auf Österreich kämen "Positionierungsfragen bezüglich Beistandspflicht" zu, sollte ein EU-Staat angegriffen werden. Verweigere Österreich diese Solidarität, drohe der Regierung in Wien politische Isolation.

Verteidigungsministerin Tanner rückt dennoch nicht von ihr ab, im Gegenteil: Militärische Neutralität sei in der jetzigen Situation "die absolut richtige Antwort" und "unabdingbar notwendig", sagte sie kürzlich zur "Tiroler Tageszeitung". Auf STANDARD-Nachfrage heißt es aus dem Ministerium nur, man würde "aufgrund der weltweiten sicherheitspolitischen Entwicklungen und Bedrohungen" strategische Fragen "laufend analysieren und in unsere Planungen einfließen" lassen.

"Absolut die richtige Richtung"

In Österreich gehe es momentan "absolut" in "die richtige Richtung", befindet auch Lukas Mandl. Der Niederösterreicher sitzt seit 2017 als ÖVP-Abgeordneter im EU-Parlament, er ist dort stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und gehört den Ausschüssen für innere Sicherheit, Arbeitsmarkt und Außenpolitik an. Es liege in der Natur der europäischen Beistandsklausel, dass von Fall zu Fall entschieden werde, wie jedes Land seine Solidarität ausdrücke, sagt er: Jedes Land leiste den Beitrag, den es leisten könne.

Mandl sagt auch, er "verhehle nicht, dass wir bisher schon unter dem Schutzschirm der Nato waren und wir davon profitieren, dass Finnland der Nato beigetreten ist und Schweden folgen wird, auch weil es europäische Werte stärkt". Österreich habe schon "lange Zeit ein sehr gutes Verhältnis in absolut aufrechter Neutralität" mit der Nato. Deshalb plädiere er dafür, die "Partnerschaft zu vertiefen". Die Herausforderung bestehe jetzt darin, die Neutralität "richtig anzuwenden".

Agieren statt reagieren

Schlagworte dieser Art sieht Franz Eder, Dekan der Fakultät für Soziale und Politische Wissenschaften in Innsbruck und spezialisiert auf Sicherheitspolitik, kritisch. Sowohl bezüglich der Neutralität als auch bei der Aufrüstung der Streitkräfte. "Wir wissen jetzt, dass das Bundesheer viele neue Ressourcen bekommt", sagt Eder. "Wir wissen aber nicht, was genau es damit eigentlich machen soll."

Dass die künftigen Investitionen ins Heer schon beschlossen wurden, bevor der Inhalt einer neuen Sicherheitsstrategie überhaupt ausformuliert sei, hält er für genau den falschen Weg. Es müsste eigentlich umgekehrt sein, argumentiert der Sicherheitsexperte. Der Politik "sowohl in der Regierung als auch in Opposition" attestiert er eine weitreichende Unfähigkeit, mittel- bis langfristige Ziele zu definieren. Man weiche entscheidenden Fragen aus. "Dabei wäre es eine zentrale Aufgabe der Politik, ihren Gestaltungsauftrag wahrzunehmen." Stattdessen werde allzu oft nur reagiert statt agiert – in diversen Politikfeldern, in der Sicherheitspolitik ganz besonders. Die Ergebnisse von Umfragen, ist auch Eder überzeugt, dürften für die jeweiligen Reaktionen jedenfalls da wie dort nicht ganz unwesentlich sein. (Anna Giulia Fink, Martin Tschiderer, 28.4.2023)