Tomislav Tomašević demonstrierte jahrelang gegen Langzeitbürgermeister Milan Bandić, einem Hansdampf mit einem korrupten Netzwerk in der Stadtverwaltung Zagrebs. Und als dieser, der oft schon in den frühen Morgenstunden durch die kroatische Hauptstadt sprintete, im Februar 2021 an einem Herzinfarkt verstarb, wählten die Bewohnerinnen und Bewohner den jungen Grünen Tomašević zu ihrem neuen Bürgermeister. Es war ein bizarrer Machtwechsel, meint der 40-jährige Tomašević im Rückblick.

Keine Selbstverständlichkeit auf dem Balkan: Zagrebs Bürgermeister Tomislav Tomašević bei der Pride.
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Der ruhig wirkende Mann mit den dunklen Augenringen (Tomašević arbeitet allein im Büro 13 Stunden am Tag) wollte eigentlich nie Politiker werden. "Ich wollte nur, dass die anderen Parteien Themen aufgreifen, diese Probleme lösen und sich der Korruption widersetzen. Aber das geschah nicht", erzählt Tomašević dem STANDARD. "Deshalb haben wir 2017 gesagt: Wenn sich keine Partei kümmert, dann wird Bandić für immer Bürgermeister bleiben. Wir müssen selbst in die Politik gehen."

Kassasturz

Vier Jahre später bekam Tomašević in der ersten Runde 45 Prozent der Stimmen. "Wenn jemand vor sechs oder vor sieben Jahren zu mir gesagt hätte, dass ich Bürgermeister sein könnte, hätte ich das nie geglaubt."

Tomašević war ein Aktivist, ein junger Wilder sozusagen, der – im Rathaus angekommen – mit herausfordernden Realitäten konfrontiert wurde. Jede und jeder in Zagreb wusste, dass das Netzwerk um Bandić sehr locker mit Geld umging. Und alle wussten, dass die Auftragsvergabe an Privatfirmen von Beziehungen und nicht von Notwendigkeiten geleitet war. Doch nach dem Kassasturz musste Tomašević erkennen, dass die Stadt und die öffentlichen Versorgungsbetriebe für Strom, Wasser, Gas und die Müllabfuhr mit 1,1 Milliarden Euro verschuldet waren.

Das Defizit der Stadt konnte jedoch nicht refinanziert werden, weil es ein illegales Defizit war, erzählt Tomašević. Die Zahlungen für städtische Institutionen wie Kindergärten und Schulen waren bereits für ein halbes Jahr nicht mehr ausgezahlt worden. "Das war wirklich schrecklich, wir hatten kein Geld auf dem Konto, um die Gehälter in den nächsten drei Wochen zu bezahlen. Wir brauchten aber für die laufenden Kosten zehnmal so viel, wie wir hatten", erzählt Tomašević von den damaligen Umständen.

Massive Kostenreduktion

Er ist sich sicher, dass das System Bandić auch zusammengebrochen wäre, wenn der alte Bürgermeister nicht verstorben wäre. "Keine Bank der Welt hätte der Stadt noch ein Darlehen gegeben, wenn er an der Macht geblieben wäre", meint Tomašević. "Er hat fünf Jahre lang Defizite angehäuft und wollte diese Finanzpolitik offensichtlich nicht ändern. Es war einfach pure Verantwortungslosigkeit."

Die Stadtverwaltung wurde in den Bandić-Jahren aufgeblasen, zudem gab es 27 Stadträte. "Als Erstes haben wir die Anzahl der Leute verringert. Einige von ihnen gingen in den Ruhestand, andere wurden gefeuert", erzählt Tomašević, unter dem die Anzahl der Stadträte auf 16 reduziert wurde.

In den städtischen Versorgungsbetrieben der Zagreber Holding, in der im Vergleich zu ähnlichen Städten zweimal bis dreimal so viele Leute beschäftigt waren, wurden 700 Verwaltungsleute eingespart. Der Fuhrpark der Stadt wurde auf zwei Drittel gekürzt, die Gehälter der Stadträte, ihrer Stellvertreter und der Berater gesenkt.

Ermittlungen, Festnahmen, Aufräumen

Auch die Staatsanwaltschaft begann zu arbeiten. "Im ersten Monat meiner Amtsperiode haben die Strafverfolgungsbehörden Leute in der Stadtverwaltung verhaftet, unter anderem die Stadträtin, die zuständig war für die Rechtsfragen", erzählt Tomašević. Auch das Team um den neuen Bürgermeister entdeckte einige Ungereimtheiten und informierte die Staatsanwaltschaft.

Der Bürgermeister selbst begann zunächst einmal, das System der öffentlichen Ausschreibungen zu kontrollieren. "Eine der ersten Entscheidungen, die ich getroffen habe, war, dass keine öffentliche Beschaffung eingeleitet wird, bis ich selbst unterschrieben habe. Manche öffentlichen Aufträge wurden, nachdem ich alles durchforstet hatte, gar nicht mehr vergeben – ganz einfach weil wir sie gar nicht brauchen. Allein durch diese Maßnahme haben wir eine Menge Geld gespart; weil jetzt jeder in der Stadtverwaltung weiß, dass ich persönlich abkläre, ob man die Ausgaben überhaupt benötigt", erzählt er.

Die Signale wirkten. Unter Bandić galt, dass ohnehin nur Unternehmen, die ihm nahestanden, den Zuschlag bekamen, andere bewarben sich erst gar nicht. "Die Firmen verstehen jetzt, dass sich die Dinge geändert haben. Wir bekommen zehnmal mehr Angebote bei Ausschreibungen. Wir haben auch verpflichtende öffentliche Ausschreibungen für die Direktorenposten der städtischen Betriebe eingeführt. Diese Topjobs sind jetzt mit professionellen Leuten mit Erfahrung aus dem Privatsektor besetzt. Und die machen das aus ähnlichen Gründen wie ich. Mein Gehalt ist öffentlich bekannt, ich bekomme etwa 2.300 Euro. Also macht man diesen Job nur, wenn man wirklich an etwas glaubt", sagt der neue Bürgermeister. Er will Leute in die Stadtverwaltung holen, die für das öffentliche Interesse arbeiten.

Job auch ohne Beziehungen

Und auch die Bürgerinnen und Bürger würden nun begreifen, dass es heute in Zagreb möglich ist, einen Job zu bekommen, ohne dass man "Beziehungen spielen" lässt. "Wenn sie das fünf Freunden erzählen, bewerben sich diese fünf Freunde das nächste Mal Das ist der einzige Weg, wie man wirklich etwas ändern kann", meint Tomašević.

Eine der größten Herausforderungen war, dass er eine teils kaputte und völlig veraltete Infrastruktur in der Stadt geerbt hat. In der Ära Bandić wurde nur in Projekte investiert, die man gut sichtbar politisch verkaufen konnte. Die Wasserleitungen in Zagreb sind jedoch durchschnittlich 60 Jahre alt. Viele zerbersten, und es gibt immer wieder ungewollte "Wasserfontänen". "Es wurde offensichtlich nichts investiert, weil die Rohre ja unter der Erde liegen und man diese nicht sehen kann, wenn sie erneuert werden", erzählt Tomašević. Er will nun auch die bestehenden Brücken über die Sava erneuern. "Denn wenn es ein weiteres Erdbeben geben sollte, kommt man bei einem Einsturz einer Brücke nicht mehr hinüber, doch alle Krankenhäuser liegen jenseits des Flusses", erklärt er sein Vorhaben.

Aktiv investiert die neue Stadtregierung in Kindergärten, 16 sollen gebaut werden, dafür wird Schritt für Schritt das exorbitante Kindergeld auslaufen. Bandić führte es 2016 ein. Demnach bekam der Elternteil, der zu Hause blieb, wenn er drei oder mehr Kinder hatte, 70 Prozent des Durchschnittsgehalts von Zagreb bis zum 15. Lebensjahr des jüngsten Kindes. Das trug zur Verschuldung der Stadt bei.

Sündteure, unfaire Regelungen

"Zu Beginn bezahlte die Stadt zehn Millionen Euro, und als wir die Verwaltung übernahmen, waren es bereits 70 Millionen Euro pro Jahr. 90 Prozent der Elternteile, die zu Hause blieben, waren die Mütter. Es war für diese Frauen eine ziemlich schädliche Maßnahme, weil es für sie schwierig ist, wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten, wenn sie etwa über 50 sind und 15 Jahre weg vom Arbeitsmarkt waren. Damit wurde also für eine lange Zeit Geschlechterungleichheit innerhalb der Haushalte geschaffen", analysiert Tomašević.

Er wollte auch Anreize zum Mülltrennen und Recyceln einführen. Früher zahlten die Bürger eine Pauschale für die Müllentsorgung, egal wie viel Abfall sie produzierten. Nun gibt es das blaue Zagreb-Sackerl für Restmüll um etwa 30 Cent für zehn Liter. Restmüll kann nur in solchen Sackerln entsorgt werden. Wer also mehr Abfall produziert, zahlt auch mehr. Wer für seinen Restmüll nicht dieses Sackerl verwendet, kann bestraft werden. "Wir haben die Menge des Restmülls auf diese Weise um über 30 Prozent reduziert, die Trennung von Kunststoffabfall stieg um 50 Prozent, jene von Biomüll stieg um 30 Prozent", erzählt der junge Bürgermeister von seinen ersten Erfolgen.

Dennoch ist er mit ständigem Widerstand konfrontiert. Der ehemalige Direktor der städtischen Abfallentsorgungsgesellschaft, der entlassen worden war, klagte ihn wegen des neuen Müllmodells. Mehr als fünf Verfahren sind am Laufen. Das "Old boys"-Netzwerk von Bandić versucht auf allen Ebenen den Wandel zu verhindern. Die Mühlen der kroatischen Justiz laufen zudem langsam. "Es spricht für sich, dass der vorherige Bürgermeister zweimal verhaftet, aber wegen der Länge der Gerichtsprozesse nie verurteilt wurde", meint der neue Bürgermeister.

Und wie geht es weiter?

Unklar ist, ob er in den nächsten zwei Jahren seine Politik auch so kommunizieren kann, dass er bei der nächsten Bürgermeisterwahl wieder gewinnen wird. Ein rationaler Zugang statt des populistischen Agierens ist etwas Neues für die Zagreber. Zuweilen hat Tomašević, der als junger Aktivist früher von der grünen deutschen Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt wurde, aber auch schon wichtige symbolische Zeichen setzen können – etwa die Umbenennung von vier Straßen, die nach Vertretern der faschistischen Ustascha-Bewegung benannt waren. Das Stadtparlament muss noch zustimmen, aber Tomašević erwartet keinen großen Widerstand. "Das ist im 21. Jahrhundert in einer europäischen Hauptstadt inakzeptabel", meint er zu den Ustascha-Namen.

Vergangenes Jahr wurde auf seine Initiative hin am Hauptbahnhof ein Denkmal für die Opfer des Holocaust und des Ustascha-Regimes errichtet. "Es ist ein Zeichen, dass die Gesellschaft nach vorn geht, weil alle lebenden früheren Präsidenten und Präsidentinnen Kroatiens sowie der amtierende Präsident bei der Einweihung waren", erinnert er sich.

Tomašević war auch der erste wichtige kroatische Politiker, der an der Pride teilgenommen hat. Als erster grüner Bürgermeister einer mitteleuropäischen Hauptstadt ist er ein Aushängeschild für seine Partei "Wir können es". Dennoch will er nicht in die Bundespolitik gehen, sondern 2025 noch einmal zum Bürgermeister gewählt werden. (Adelheid Wölfl, 28.4.2023)