Und weiter.

Foto: IMAGO/SNA

Astana – Partie 13 dürfte für Jan Nepomnjaschtschi eine der härteren in seiner Karriere sein. Am Vortag hat er die 12. Partie aus Gewinnstellung heraus katastrophal verloren und damit den Ausgleich in einem Match kassiert, das er schon fast in der Tasche zu haben schien.

Mit diesem Wissen setzt Nepo sich für seine letzte reguläre Weißpartie ans Brett. Wenn er den Wettkampf doch noch ohne Tiebreak für sich entscheiden will, dann ist das seine beste verbliebene Gelegenheit.

Spanische Verwechslung

Doch im Gegensatz zu den meisten seiner Weißpartien in diesem Match läuft diesmal in der Eröffnung etwas schief. Hat Nepo die Zugfolge in einer der vielen Naben- und Seitenvarianten des Geschlossenen Spaniers mit d3 vertauscht, der in diesem Wettkampf immer wieder diskutiert wird? Es muss wohl so sein, denn obwohl der Russe mit 10. Le3 als erster von der von ihm gewonnenen fünften Matchpartie abweicht, steht ausgangs der Eröffnung sein Gegner deutlich besser. Spätestens mit 19...d5 übernimmt Ding Liren das Kommando im Zentrum und verfügt nun über verlockende Möglichkeiten, seine Figuren in Richtung weißer Königsflügel zu schwenken.

Diagramm: Vitouch

Nur: Wie schon so oft in diesem Match nimmt die Partie auch diesmal nicht den scheinbar vorgezeichneten Verlauf. War es gestern Jan Nepomnjaschtschi, der seine Gewinnstellung misshandelte, so greift diesmal Ding in allerdings nur moderat besserer Stellung mehrmals fehl. Die unharmonisch anmutende Schwerfigurenaufstellung mit dem Turm auf e5 und der den Lf8 blockierenden De7 lädt Nepo zur von Ding übersehenen hübschen Zentralisierung 24. Dd4! ein.

Diagramm: Vitouch

Dings Notbremse

Als Reaktion darauf beschließt der Schwarze, per Qualitätsopfer auf e4 die Notbremse zu ziehen. Zwar hat danach erstmals in dieser Partie der Weiße Vorteil, Ding hat jedoch korrekt vorhergesehen, dass seine verbleibenden Leichtfiguren im Verbund mit dem Freibauern auf der e-Linie zumindest praktisch genügend Kompensation für das kleine materielle Defizit geben.

Jan Nepomnjaschtschi macht dann auch gar nicht mehr groß Anstalten, das entstandene Endspiel zu kneten. Er schickt sich im 36. Zug in eine Remisschaukel, die das Unentschieden nach 40 Zügen unterschriftsreif macht.

Diagramm: Vitouch

In der auf die Partie folgenden Pressekonferenz sind beiden Spielern die Nachwirkungen der dramatischen 12. Runde am Mittwoch anzumerken: Während Ding für seine schüchternen Verhältnisse gelöst und entspannt wirkt, hinterlässt Nepo einen fahrigen und schlecht gelaunten Eindruck – kein Wunder, könnte das Match doch schon an diesem Donnerstag zu seinen Gunsten entschieden sein, wenn der Russe sich in Partie 12 nur nicht jenes kolossale Eigentor geschossen hätte.

Vor der letzten klassischen Partie am Samstag erreicht die Spannung dieses bisher schon höchst ereignisreichen WM-Matches damit noch einmal einen Höhepunkt. Es steht 6,5: 6,5 – und Ding Liren, der in der 14. Partie die weißen Steine führen wird, muss am Ruhetag entscheiden, mit welchem Plan er in die Schlussrunde geht.

Carlsens Kalkül

Da wäre einmal die Methode Carlsen: Als der baldige Ex-Weltmeister in seinem WM-Match mit Sergei Karjakin 2016 in New York City bei Gleichstand in der letzten Runde die weißen Steine führte, entschied er bereits im Vorhinein, die Partie auf ein schnelles Remis anzulegen, um Energie für das Schnellschach-Tiebreak zu sparen. Carlsens Letztrunden-Kalkül ging damals ebenso auf wie 2018 gegen Fabiano Caruana: Da willigte der Norweger mit Schwarz spielend in klar besserer Stellung ins Remis ein. Beide Male siegte Carlsen im Schnellschach fast mühelos und behielt seinen Titel.

In Astana ist es jedoch Jan Nepomnjaschtschi, dem im Spiel mit verkürzter Bedenkzeit die etwas besseren Chancen als Ding Liren eingeräumt werden. Insofern dürfte sich die Verlockung, die letzte Weißpartie zu verschenken, um sicher im Tiebreak zu landen, für den Chinesen in Grenzen halten.

Zugleich wies Ding allerdings selbst daraufhin, dass er nicht in dieselbe Falle wie Weselin Topalow gehen darf: Bei der WM 2010 gegen Vishwanathan Anand war der Bulgare so entschlossen, das Tiebreak um jeden Preis zu vermeiden, dass er in der letzten Partie mit Weiß eine desaströse Leistung ablieferte, von Anand ausgekontert wurde und das Match ganz ohne Tiebreak verlor.

Alles bleibt offen

Am ehesten darf man von Ding Liren am Samstag wohl "kontrollierte Offensive" in einer Variante erwarten, in der das weiße Verlustrisiko gering, die Remiswahrscheinlichkeit dafür entsprechend hoch ist.

Allerdings: Das Match in Astana hat bisher schon mehr überraschende Wendungen gesehen als die letzten paar Schachweltmeisterschaften zusammengenommen. Insofern erscheint auch eine von beiden Seiten mit offenem Visier ausgekämpfte letzte Partie alles andere als ausgeschlossen.

Und wenn es doch ein schnelles Remis wird, dann dürfte das anschließende Tiebreak nur um so sehenswerter ausfallen. (Anatol Vitouch, 27.4.2023)