Von 1703 bis 2023 ist die "Wiener Zeitung" erschienen, am 30. Juni kommt die letzte Ausgabe der ältesten Tageszeitung auf den Markt, ab 1. Juli beginnt ein neues Zeitalter als reines Onlinemedium. Nach den entsprechenden Beschlüssen im Parlament stehen nun schmerzhafte Einschnitte bei dem von der Republik Österreich herausgegebenen Medium an. Laut APA-Informationen soll es zu 50 bis 60 Vertragsauflösungen sowie 20 bis 30 Änderungskündigungen kommen.
"Wiener Zeitung"-Geschäftsführer Martin Fleischhacker wollte diese Zahlen im APA-Interview vorerst noch nicht bestätigen. Klar sei aber: "Wir führen Gespräche mit dem Betriebsrat, und wir müssen uns von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern trennen." Nach dem Wegfall der Pflichtveröffentlichungen im Amtsblatt der "Wiener Zeitung" sei ein tägliches Printprodukt nicht mehr zu halten gewesen. "Wenn du deinen Hauptumsatzbringer verlierst, dann hast du ein Thema", so Fleischhacker. "Der Fortbestand von Print steht ja überall gerade zur Disposition."
Am Cover der Freitagausgabe führte die "Wiener Zeitung" jene Abgeordneten der ÖVP und der Grünen namentlich an, die für das neue Gesetz stimmten. Unter dem Titel: "Ende."
Sozialplan
24 Millionen Euro Umsatz hat die Wiener Zeitung GmbH 2022 erzielt, etwas über 20 Millionen kamen via Amtsblatt. Laut Fleischhacker haben die Pflichtveröffentlichungen über die Jahre zwischen 85 und 90 Prozent des Umsatzes ausgemacht. Mit Vertriebserlösen konnte diese Summe bei 6.600 permanenten Abonnenten und einer Verkaufsauflage von rund 8.000 Stück nicht kompensiert werden. Über die gesamte Gruppe arbeiten mehr als 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die "Wiener Zeitung", in der Mutterfirma sind es 140, im journalistisch-redaktionellen Bereich 54.
Interessenten für eine Übernahme oder Privatisierung der "Wiener Zeitung" hätte sich zwar gemeldet, ernsthafte Projekte, bei denen auch Redaktion und Zeitung in der bisherigen Form hätten weiterbestehen können, habe es aber nach allem, was er gehört habe, nicht gegeben, berichtete Fleischhacker. "Was jetzt am Tisch liegt, ist ein Ergebnis, das schwere Entscheidungen mitbringt, aber auf jeden Fall ein zukunftsgerichtetes Unternehmen übrig lässt." Für die von Vertragsauflösung Betroffenen gibt es einen Sozialplan. "Es herrscht große Einigkeit, dass wir für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sozial verträgliche Maßnahmen treffen. Für Härtefälle soll es noch etwas extra geben."
Weg von Tagesaktualität
Ab 1. Juli wird die Redaktion der "Wiener Zeitung" neu eine Größe von 20 bis 30 Journalistinnen und Journalisten haben. Die Produktentwicklung für das künftige Angebot läuft laut Fleischhacker. "Wir verstehen unseren öffentlich-rechtlichen Auftrag so, dass wir online breiter werden. Wir wollen der Strömung des konstruktiven und lösungsorientierten Journalismus folgen."
In das Projekt eingeweihte Personen attestieren dem Vorhaben Ähnlichkeit mit dem von Michael Fleischhacker im Auftrag von Dietrich Mateschitz entworfenen und inzwischen wieder eingestellten Portal "Addendum". Der "Wiener Zeitung"-Geschäftsführer spricht lieber von einem "aufklärenden Kompassmedium", weg von der Tagesaktualität. Eine rote Seite als Pendant zur blauen ORF.at-Seite soll es jedenfalls nicht werden, beruhigt Fleischhacker die Medienbranche. Vielmehr seien Kooperationen mit anderen Medien angedacht.
"Viele missverstanden"
Kritik aus der Medien- und Kommunikationsbranche gab es zuletzt auch rund um das bei der "Wiener Zeitung" angesiedelte Journalistenausbildungsprogramm im Media Hub Austria sowie die Content Agentur Austria, die Inhalte für die Regierung aufbereiten soll. Fleischhacker führt die kritischen Debatten vor allem auf die derzeit "aufgeheizten Diskussionen" in der Medienlandschaft zurück: "Viele haben es missverstanden, viele wollten es missverstehen."
Eine staatliche Journalistenausbildung sei nicht der Plan. "Es ist kein Ausbildungsprogramm, sondern ein Praxisprogramm, ein Traineeship." Absolventen von Universitäten, Fachhochschulen oder Journalismuslehrgängen bzw. -ausbildungseinrichtungen bekommen laut Fleischhacker für zwölf Monate eine Fixanstellung und ordentliche Bezahlung nach Kollektivvertrag. "Die Leute werden bei uns im Haus und in anderen Redaktionen eingesetzt. Über die Auswahl der Trainees und die Schwerpunktsetzungen beim Trainee-Programm entscheiden die Kooperationspartner, also die Medienbranche, die im Beirat und in der Jury vertreten ist."
Zum ORF "kein Berührungspunkt"
Bisher sind "Kleine Zeitung", "Dossier", "Profil", Puls 24 und "Brutkasten" mit an Bord, mit weiteren Interessenten liefen Gespräche. Zum ORF gebe es "keinen Berührungspunkt". Das Bundeskanzleramt rede jedenfalls nicht mit. "Je breiter die Basis der Kooperationspartner, desto stärker ist die Unabhängigkeit gesichert. Ich verwehre mich dagegen, dass hier auf dem Rücken junger Leute, die für Journalismus brennen, politische Diskussionen ausgetragen werden."
Von der Kommunikations- und Kreativszene geäußerte Sorgen, dass die Content Agentur Austria als Servicestelle der Regierung Aufgaben übernehmen könnte, die bisher von privaten Agenturen getätigt wurden, versucht Fleischhacker ebenfalls zu zerstreuen. "Diese Content-Agentur besteht seit 2009. Wir bereiten an der Schnittstelle zwischen Staat, Verwaltung und Bürger komplexe Inhalte gut verständlich auf, etwa auf help.gv.at. Das gibt es also bereits, und wir haben nicht vor, PR- oder Content-Agenturen Konkurrenz zu machen."
Update um 16.00 Uhr mit WZ-Redaktionsvertretung
Die Redaktionsvertretung der "Wiener Zeitung" äußerte sich am Freitagnachmittag in einem offenen Brief, der auch an die Abgeordneten des Nationalrats ergeht.
"Die Redaktion ist entsetzt darüber, wie im Vorfeld der Entscheidung über den Gesetzesentwurf zur ,Wiener Zeitung‘ und auch während der Plenarsitzung am Donnerstag von manchen Abgeordneten der ÖVP und der Grünen noch immer behauptet werden konnte, dass die ,unabhängige Redaktion‘ natürlich bestehen bleibe und deren Mitarbeiter weiter beschäftigt werden – obwohl die Journalistengewerkschaft, sämtliche Experten, zahlreiche Initiativen und Organisationen sowie die Redaktion stets davor gewarnt haben, dass eben dies nicht geschehen wird.
Dass unmittelbar danach über die Austria Presse-Agentur ein Artikel mit Zitaten des Geschäftsführers, Martin Fleischhacker, erscheint, in dem den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Unternehmen de facto ausgerichtet wird, dass es zu 50 bis 60 Vertragsauflösungen und 20 bis 30 Änderungskündigungen kommen wird, spricht Bände – und zeigt, dass alle Befürchtungen richtig und deren Entgegnungen die pure Unwahrheit waren. Gleichzeitig wollen wir festhalten, dass es richtig ist, dass die ,Wiener Zeitung‘ schon bisher hervorragende Journalisten ausgebildet hat – dies jedoch in der Redaktion und durch den Schutz des (bisherigen) Redaktionsstatuts – nicht in der Weisungskette des Bundeskanzleramtes, wie dies künftig formal festgeschrieben werden soll. Dies hat großes Potenzial für machtpolitischen Missbrauch, vor dem wir noch einmal eindringlich warnen möchten." (APA, red, 28.4.2023)