Im Gastblog analysiert der Politikwissenschafter Ivo Iliev die politischen Faktoren, die zu einer Instabilität in Bulgarien führen.

Es gibt nichts Bleibenderes als das Vorübergehende, lautet ein altes jüdisches Sprichwort. Kaum jemand weiß das besser als die bulgarischen Wählerinnen und Wähler, die am 2. April dieses Jahres zum fünften Mal binnen zwei Jahren zur Urne gebeten wurden. Grund dafür ist die chronisch gewordene Unfähigkeit der politischen Parteien, stabile Koalitionen zu schmieden. Das politische System des Landes wird derart von gegenseitigem Misstrauen, aggressivem Parteienwettbewerb und Klientelpolitik dominiert, dass die meisten rechnerisch möglichen Optionen zur Regierungsbildung von vornherein ausgeschlossen sind. So taumelt Bulgarien von einer vorgezogenen Wahl zur nächsten. Die vom Präsidenten ernannte Übergangsregierung, die eigentlich nur ein verfassungsrechtliches Provisorium sein sollte, ist zur vorläufigen Dauerpräsenz geworden.

Keine Regierungsbildung in Sicht

Dass die diesjährigen Neuwahlen die Karten neu mischen werden, galt schon im Voraus als unwahrscheinlich. Tatsächlich unterscheidet sich das Wahlergebnis nur geringfügig vom vorherigen. Das Mitte-Rechts Bündnis Gerb-SDS des Langzeit-Ministerpräsidenten Boiko Borissov gewann die Wahl mit knappem Vorsprung vor ihrem Herausforderer, dem liberalen Block PP-DB.

Nach dem fünften Wahldurchgang innerhalb von zwei Jahren ist der sechste Durchgang zu befürchten.
Foto: IMAGO/Georgi Paleykov/NurPhoto

Gerb ist nominell eine liberalkonservative pro-europäische Partei, doch zwischen ihrer Selbstbeschreibung und ihrer politischen Praxis klafft eine Lücke. Borissov, der das Land als Ministerpräsident zwischen 2005 und 2021 fast durchgehend regierte, steht nahezu sinnbildlich für die politische Misere des Landes. 2020 protestierten abertausende wütende Bürgerinnen und Bürger monatelang gegen die damals von Gerb angeführte Regierung. Kritiker und Kritikerinnen werfen der Partei Korruption, Manipulation des Justizwesens und massive Veruntreuung von EU-Geldern vor.

PP steht für "Wir setzen den Wandel fort"; die Bewegung ist als eine Art politisches Start-Up-Projekt der zwei Harvard-Absolventen Kiril Petkov und Assen Vassilev aus den Protesten im Jahr 2020 hervorgegangen. Politisch ist die Partei im liberal-zentristischen Spektrum zu verorten, genauso wie ihr kleinerer Bündnispartner "Demokratisches Bulgarien" (DB). PP und DB verbindet nicht nur die inhaltliche Nähe, sondern auch die Kernklientel, welche sich aus den Reihen der städtischen Mittelschicht speist. Für dieses Milieu gilt jegliche Kooperation mit Gerb als toxisch, deshalb mussten Vertreter und Vertreterinnen des Bündnisses im Wahlkampf mehrmals zusichern, dass sie auf keinen Fall eine Koalition mit Gerb anstreben werden.

Wenn es um Machterhalt geht, ist Gerb in Bezug auf potenzielle Koalitionspartner sprichwörtlich flexibel. Zuletzt regierte die Partei bis 2021 mit einem kleinen Rechtsaußenbündnis und blockierte zusammen mit diesem Nordmazedoniens Beitrittsverhandlungen mit der EU. Die Konsequenzen für das internationale Ansehen Bulgariens waren verheerend, doch dies störte die demonstrativ zur Schau gestellte Harmonie zwischen Gerb und den Nationalisten kaum.

Aus diesem Grund gilt der neue rechtsradikale Spieler, "Wiedergeburt" (V), als der wahrscheinlichste Bettgenosse von Gerb in einer künftigen Koalition. Borissov hat bereits Interesse an einer Zusammenarbeit angekündigt. "Wiedergeburt" hat mit einer wohldosierten Mischung aus Fremdenfeindlichkeit, pro-russischen Slogans und vor allem lautstarker Impfgegnerschaft 100.000 neue Stimmen dazugewonnen und ein Ergebnis von 14 Prozent erzielt. Darunter finden sich viele Nicht- und Wechselwählende; auch PP hat ganze sechs Prozent ihrer Anhängerschaft an "V" verloren.

Für eine Zweierkoalition mit Gerb passt die Arithmetik aber immer noch nicht, und es ist eher unwahrscheinlich, dass eine der kleineren Parteien für Gerb und V in die Bresche springen wird.

Wahl im Ausland liberaler, aber auch rechtsnationaler 

Bei jeder bulgarischen Wahl ist das Wahlverhalten der Diaspora der Elefant im Raum. Bulgarien ist seit der Wende ein Auswanderungsland, und die Anzahl der im Ausland lebenden Bulgaren hat seit dem EU-Beitritt 2007 des Landes noch erheblich zugenommen. Lebten Ende der 1980-er Jahre knapp neun Millionen Menschen im Land, sind es laut der letzten Volkszählung 2021 nur noch 6,5 Millionen. Die genaue Anzahl der Auslandsbulgaren und Auslandsbulgarinnen ist unbekannt, sie wird aber auf etwa anderthalb Millionen Menschen geschätzt. Wie und ob sie wählen, kann unter Umständen eine entscheidende Rolle für den Wahlausgang spielen.

Traditionell sind progressive Parteien die beliebteste Wahl der Diaspora, und auch am 2. April erhielt das Bündnis PP-DB mit seiner Antikorruptionsplattform in den meisten Auslands-Wahllokalen im Schnitt knapp 50 Prozent der Stimmen, unter anderem auch in Österreich.

Tatsächlich genießen aber auch populistische Anti-Establishment-Bewegungen zunehmende Popularität unter Auswanderern. Bei der ersten der fünf vorgezogenen Neuwahlen im April 2021 hatte ein erheblicher Teil von ihnen die populistische Bewegung mit dem nicht nur auf Deutsch seltsam anmutenden Namen "Es gibt ein solches Volk" (ITN) zu einem eklatanten Wahlsieg verholfen. Tatsächlich war ITN im Ausland weitaus beliebter als im Inland. Doch als die Partei aus ihrem knappen Wahlsieg einen Alleinvertretungsanspruch ableitete und in einer Reihe anmaßender Gesten jegliche Koalitionsangebote abschlug, schwand ihre Unterstützung schnell.

Nach all den Wahlwiederholungen hat ausgerechnet "Wiedergeburt" diese Stelle besetzt, die nach dem Scheitern von ITN vakant geblieben war. Ganze 21,4 Prozent der Auslandsstimmen entfielen auf die rechtsradikale Partei, weit über dem Gesamtdurchschnitt. Erklären lässt sich das nur zum Teil mit der zunehmenden sozialen Schichtung der Diaspora. Tatsächlich ist V nicht nur bei der ausgewanderten Arbeiterklasse beliebt, sondern durchaus auch bei Menschen mit hohem Bildungsgrad und Einkommen.

Alleinherrschaft der Technokraten

Eine paradoxe Nebenwirkung der häufigen Wahlwiederholungen ist die informelle Aufwertung des Präsidentenamtes gewesen. Bulgarien ist laut Verfassung eigentlich eine rein parlamentarische Republik, und der Präsident verfügt, ähnlich wie in Österreich und Deutschland, über eingeschränkte exekutive Vollmachten. Bei vorgezogenen Wahlen darf er etwa ein Interimskabinett ernennen, dessen einzige Aufgabe darin besteht, die Neuwahl zu organisieren und die bestehenden Tagesgeschäfte der Verwaltung fortzuführen.

In den letzten zwei Jahren war Bulgarien aber fast durchgehend im Wahlkampfmodus. Deswegen durfte das vom Präsidenten Rumen Radev handverlesenen Kabinett die politische Agenda auf Dauer im Alleingang bestimmen. Die meisten wichtigen politischen Entscheidungen der letzten zwei Jahre wurden also von Regierungsvertretern getragen, die nicht gewählt wurden. Und während sich Präsident Radev in der Rolle eines einflussreichen Lenkers und Vermittlers in Krisenzeiten sichtlich gefällt, lässt die politische Bilanz der präsidentiellen Technokratie zu wünschen übrig. Von der Absage an eine geordnete Impfpolitik mitten in der Corona-Pandemie bis zur holprigen Planung und verspäteten Umsetzung des Europäischen Aufbau- und Resilienzplans deutet einiges darauf hin, dass Technokratie alleine nicht imstande ist, den Laden am Laufen zu halten.

Wohin jetzt?

Die oben beschriebene Konstellation lässt die Regierungsbildung in weite Ferne rücken. Das Parlament ist nach der fünften Wahlwiederholung genauso fragmentiert wie vor zwei Jahren, und die politische Kultur wird nach wie vor von Argwohn und Gezänk dominiert. Es liegt daher nahe, zu vermuten, dass Bulgarien auf die sechsten vorgezogenen Neuwahlen noch im Sommer steuert. Das bedeutet noch mehr Instabilität, Reformstau und verpasste Möglichkeiten. Ausgerechnet in einer Zeit, wo viel Helikoptergeld aus Brüssel zum Greifen nah ist und längst überfällige Reformen in Sachen Justiz, Digitalisierung, Klimaschutz und Industrie finanziell abgefedert werden können, fehlt dem Land die entschlossene Führung und die administrative Kapazität.

Die Unfähigkeit der politischen Klasse, eine Einigung zu erzielen, ist außerdem nicht gerade förderlich für das Vertrauen in die Demokratie: mit schlappen 40 Prozent erreichte die Wahlbeteiligung im April ein Allzeittief. Entsprechend ist die Anzahl derjenigen gestiegen, die zwar zur Wahl gegangen sind, aber die exotische Option "Ich unterstütze niemanden" auf dem Wahlzettel angekreuzt haben. Es ist diese Politikverdrossenheit und Mangel an Vertrauen, und nicht, wie anderswo in der Region, die Sehnsucht nach einer starken Hand, die Bulgariens eigentliches Demokratieproblem ausmacht. (Ivo Iliev, 4.5.2023)

Ivo Iliev forscht und schreibt zu politischer Ökonomie in Süd-Ost Europa. U.a. im Rahmen des European University Institute.

Quellen

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