Ein alter Herr bringt eine CD zurück: Er habe sie schon, sagt er dem Verkäufer. Der meint sehr freundlich, er habe ihm das ja gesagt. Man weiß, welche CDs die Käufer besitzen? "Ja, wir kennen viele unserer Kunden ja seit Jahrzehnten", erklärt Gramola-Besitzer Richard Winter.

STANDARD: Wo hängt Hund Nipper?

Winter: Hier oben, seit 1924.

STANDARD: Der einem Grammofon lauschende Hund ist Markenzeichen des Musiklabels "His Master’s Voice". Es gibt zwölf dieser Bilder von ihm, Ihres ist eines davon.

Winter: Ja, weil wir seit 1924 Generalvertreter von Gramola und von His Master’s Voice (HMV) waren, beide Labels wurden von uns betreut. In den 1930er-Jahren kam EMI, die deutsche Tochter von HMV, nach Österreich und übernahm die Generalvertretung von HMV – aber den Hund haben wir nicht mehr hergegeben. Emil Berliner, der Erfinder der Schallplatte, hatte die Bilder bei Maler Francis Barraud in Auftrag gegeben.

"Die Tonträgerbranche wird nicht sterben, unsere Kunden brauchen eine physische Evidenz ihrer kulturellen Verfasstheit": Gramola-Eigentümer Richard Winter, dahinter an der Wand Branchenhund Nipper.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Gramola ist Österreichs ältestes Tonträgergeschäft. Wie begehen Sie 2024 den Hundertsten?

Winter: 2024 wird Anton Bruckner 200 Jahre alt. Wir produzieren ja auch recht viel und werden heuer für unsere in St. Florian aufgenommene Bruckner-Edition seine letzte Symphonie aufnehmen und nächstes Jahr die CD-Kiste mit all seinen Symphonien herausbringen. So feiern wir 200 Jahre Bruckner, 100 Jahre Gramola – und seit 50 Jahren betreibe ich das Geschäft als Alleininhaber. Ist auch ein rundes Jubiläum.

STANDARD: Ihr Vater starb in Ihrem Geburtsjahr, Sie stiegen mit 19 ins Geschäft Ihres Großvaters ein. Wollten Sie nie etwas anderes machen als Klassik-Platten und -CDs verkaufen?

Winter: Ich hab in meinen Dreißigern auch Platten- und Musikrezensionen geschrieben, Wirtshäuser betrieben …

STANDARD: Wirtshäuser?

Winter: Ich betrieb auf der Mariahilfer Straße das dreistöckige Musikland, dort, wo später Virgin Music einzog. Es war ein Flop, aber mir hat’s gefallen. Statt pleite zu gehen, habe ich die Mietrechte weiterverkauft – ja, und dort im dritten Stock hab ich ein Wirtshaus betrieben. Die dritte Etage war die erfolgreichste: Wir haben dort Musik gemacht, man konnte essen – es war ein lustiger Platz. Wenn man selbst verzweifelt ist am schlechten Geschäftsgang, ist man eben ins eigene Wirtshaus gegangen und hat neu übers Leben nachgedacht.

STANDARD: Haben Sie eigentlich auch die CD oder Platte von Richard Strauss’ Ballett "Schlagobers"?

Winter: Ja, sollte da sein. Warum?

STANDARD: Weil Jugendstil-Architekt Dagobert Peche die Entwürfe für Ihr heute denkmalgeschütztes Geschäft gemacht und in den 1920ern die Uraufführung von "Schlagobers" ausgestattet hat. Das Stück über Prinzessin Teeblüte und Prinz Kaffee fiel allerdings durch, in der Wirtschaftskrise kam das Thema nicht so gut an …

Winter: So genau wusste ich das gar nicht. Wirtschaftskrisen haben auch uns immer wieder getroffen, aber wir haben’s überlebt.

Der Erfinder der Schallplatte, Emil Berliner, gab Bilder des musikaffinen Hundes Nipper in Auftrag.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Die Tonträgerbranche wurde oft totgesagt. Der tschechisch-britische Plattenerzeuger Gramola ging 1929 pleite, Ihre Familie übernahm das Label, und Ihr Geschäft hat im Gegensatz zu vielen anderen in der Branche überlebt. Weil Sie auch selbst CDs produzieren?

Winter: 1930, 1931 gab es gar keine Schallplatten mehr, aber für uns war das offenbar nicht ruinös. Mein Großvater war aber auch Generaldirektor bei Meinl, meine Großeltern waren sehr reiche Leute, und ich glaube, er hat das Geschäft auch meiner Großmutter zuliebe gehalten: Sie hat das Singen, die Musik geliebt. Und sie hat das Geschäft mit ihrer Klavierbegleiterin geführt, als er von 1938 bis 1945 in Stein eingesperrt war. Warum genau er von den Nazis inhaftiert wurde, wissen wir nicht, er redete nicht viel drüber. Er war einer derer, die am 6. April 1945 die "Hasenjagd" der SS bei Krems überlebten. Nach dem Krieg führten meine Großeltern das Geschäft weiter, bis ich 1973 übernahm.

STANDARD: Gramola ist eins der letzten eigentümergeführten Einzelhandelsgeschäfte am Graben, die großen Ketten übernehmen alles. Einsam?

Winter: Gar nicht. Wir werden so wertgeschätzt von den Leuten, die zu uns kommen, das stärkt das Selbstwertgefühl, ich fühl mich überaus wohl in dieser Umgebung. Das wahre Problem ist, dass die großen internationalen Konzerne viel Geld für Mietablösen ausgeben – und das ist die Versuchung, die immer wieder an mich herangetragen wird: "Sperren Sie doch zu, Sie können in Ihrem Leben nicht so viel verdienen, wie wir Ihnen an Mietablöse zahlen." Ich hab schon sehr viele solcher Angebote abgelehnt: Ich kann das, was wir selbst produzieren, direkt am Letztverbraucher testen, und ich fühle mich gebraucht. Ich bin seit zwölf Jahren in Pension, muss kein Geld aus dem Unternehmen rausnehmen: Ich mach das G’schäft wirklich wegen der Gaude.

STANDARD: Sie glauben, Schallplatten, von denen 2022 wieder um 4,3 Prozent mehr verkauft wurden, CDs und Streaming werde es weiterhin nebeneinander geben. Sie sind ein Optimist?

Winter: Die Schallplattengeschäfte werden mehr, vor allem Junge kaufen wieder Platten. Die Tonträgerbranche wird nicht sterben. Ich glaube, dass unsere Kunden, dass Leute, die Schiller, Goethe, Mozart und Schubert kennen, eine physische Evidenz ihrer kulturellen Verfasstheit brauchen. Ob Buch, Platte oder CD: Das muss man haben, das steht im Wohnzimmer. Leute, die Klassik und Jazz um 20 Euro je CD kaufen, nehmen sich Zeit zum Zuhören und nehmen die Musik wertschätzend wahr. Wenn ich ein Streaming-Abo um zehn Euro pro Monat nütze und mich ununterbrochen berieseln lasse, befördert das die Beiläufigkeit des Hörens.

Im Vorjahr wurden in Österreich rund 400.000 Schallplatten verkauft, und es gibt wieder mehr CD- und Plattengeschäfte.
Foto: APA/dpa/Jens Büttner

STANDARD: Vor allem Leute zwischen 15 und 35 Jahren kaufen jetzt wieder Schallplatten?

Winter: Ja, interessanterweise. Es gibt junge Leute, die setzen sich einmal im Monat zusammen, lassen ihre Handys im Vorzimmer liegen und hören im Wohnzimmer gemeinsam ihre Platten und sprechen drüber.

STANDARD: Sie sagen ja, das Sympathische an der Langspielplatte, LP, sei, dass sie "so imperfekt ist wie der Mensch". Ist das so?

Winter: Da zitiere ich meinen Sohn. Das Fraunhofer Institut hat Versuche mit Schallplatten-hörenden Probanden gemacht und ihre inneren Zustände dabei gemessen. Es wurde festgestellt, dass schon die Nadel in der Einlaufrille, bevor die Musik anfängt, eine euphorische Prädisposition im Hören in Gang setzt und sich die Zuhörer auf die Musik freuen, egal, was kommt. Wobei eine Oper halt aufgrund ihrer Musikmenge nicht auf eine LP passt, das geht sich von der Länge her nicht aus. Das ist die menschliche Schwäche der LP, die die CD nicht hat.

STANDARD: Sie produzieren rund 40 CDs im Jahr. Sie streamen aber auch?

Winter: Wir sind auf 60 Streaming-Plattformen weltweit. Ich habe das Glück, seit 40 Jahren im Vertriebsnetzwerk von Naxos (weltgrößtes Label für Klassik, Anm.) von Klaus Heymann zu sein und somit weltweit direkt verkaufen zu können.

STANDARD: Was kostet so eine CD-Produktion?

Winter: Die Aufnahme selbst kostet uns 3500 bis 4000 Euro, wir haben dafür einen eigenen Aufnahmeleiter, der in Wien studiert und mit Pierre Boulez gearbeitet hat – Wien ist halt so ein tolles Pflaster für hervorragende Leute, Wien ist das Paradies für Musiker und Musik. Von einer Bruckner-Symphonie verkaufen wir im ersten Schub 700 bis 1000 Stück – und das ist unser Vorteil: Die großen Companys können so etwas nicht machen, die müssen ihre Overheads anteilig unterbringen, und da rechnet sich eine Produktion erst ab einem Verkauf von rund 15.000 Stück. Bei mir rechnet sie sich ab 1500 Stück.

STANDARD: Wie viele CDs und Schallplatten besitzen Sie selbst?

Winter: So 1500 bis 2000. Viele unserer Kunden haben viele, viele mehr.

STANDARD: Wann hören sie die?

Winter: Lassen Sie mich so antworten: Wir hatten 1965 eine Beethoven-Edition, gespielt vom Pianisten Wilhelm Kempff. 1969 machten wir eine mit Friedrich Gulda, und da kamen Stammkunden mit ihren originalverpackten Kempff-Kassetten, um sie gegen die Gulda-Edition zu tauschen. Die Inbesitznahme spielt also eine gewisse Rolle, und manchmal hält die Hörgeschwindigkeit nicht mit der Bestell- oder Kaufgeschwindigkeit Schritt. Bestimmte Dinge braucht man einfach.

STANDARD: Ihr Lieblingskomponist?

Winter: Ich bin Gustav Mahler schon sehr nahe.

Gustav Mahler ist Winters Lieblingskomponist; die Wiener Oper leitete er von 1897 bis 1907, verabschiedet hat er sich dort u. a. mit dem Satz: "Ich habe es redlich gemeint, mein Ziel hochgesteckt."
Foto: Kaplan Foundation Collection, New YorkNew York Philharmonic/Ardon Bar-Hama

STANDARD: Verstehe ich. Der Wiener Musikverein hat ihn nie zum Ehrenmitglied ernannt. Seltsam, oder?

Winter: Hirnrissig ist das.

STANDARD: Wird Ihr Sohn oder Ihre Tochter das Geschäft in vierter Generation weiterführen?

Winter: Nach mir wird der Mietpreis steigen und das Geschäft nicht zu erhalten sein. Aber die Gramola Global Trading, die unsere Produktionen macht und fürs Streaming zuständig ist, die wird es weiter geben.

STANDARD: Was wäre die Welt ohne Musik?

Winter: Die Welt ohne Musik wäre ein Irrtum: Da kann man ruhig frei nach Friedrich Nietzsche zitieren.

(INTERVIEW: Renate Graber, 30.4.2023)