Vier von zehn Ankömmlingen in der Notaufnahme werden in ihrer Dringlichkeit als "normal" oder "nicht dringend" kategorisiert.
Foto: Heribert Corn

Die junge Frau liegt auf einer Liege im Warteraum und wimmert leise. Durch das große Dachfenster starrt sie in den trüben Taghimmel. Vermutlich nimmt sie ihre Außenwelt nicht wahr. Sie blinzelt, sie wartet. Neben ihr stehen, dicht an dicht, fünf weitere Liegen, darauf liegen fünf weitere Menschen, fünf weitere Schicksale, über die jemand entscheiden muss. Sie alle warten. Auf Befunde, Diagnosen, ihre Entlassung oder einfach nur darauf, dass das Schmerzmittel wirkt.

Die junge Frau hat zerzaustes Haar, fahle Haut, sie stöhnt, starrt, blinzelt. Stöhnt. Starrt. Plötzlich hüpft sie auf. Gerade noch war ihr scheinbar elend, jetzt hat sie Hunger. Eine Pflegerin bietet an, ihr schnell eine Marmeladensemmel zu schmieren. Sie nickt.

Semmelnot und akute Beschwerden

Die junge Frau verschlingt die Semmel, dann wirft sie sich aufs Bett, als wäre alles außer zu liegen wieder unmöglich. Die Frau lebt in einem betreuten Wohnheim. Sie hat psychische Vorerkrankungen. In der Früh ist sie umgekippt. Die Rettung wurde gerufen. Verdacht auf Intoxikation. Es wurde vermutet, sie habe "etwas" geschluckt. Die Pflegerin kommt. Alles gut, keine Vergiftung, sie kann gehen. Die junge Frau setzt sich auf, rutscht von der Liege, schnappt ihre Tasche und schlurft hinaus. Ihr Schicksal wird woanders entschieden.

Im Nebenbett liegt ein Mann, der voll bekleidet ist, klobige Schuhe an den Füßen und auf dem Kopf eine Kappe trägt, sein Gesicht ist glühend rot, er grinst ins Nichts. "Der nüchtert aus", sagt ein Pfleger. In die Klinik Ottakring kam er am Vormittag. Passanten hatten ihn auf der Straße gefunden. Rettung. Notaufnahme. Inzwischen liegt er seit fast sechs Stunden hier. Bald kann auch er gehen.

Auf einer Liege weiter rechts: schwerer Krebs, akute Beschwerden. Daneben ein älterer Herr, der am Tropf hängt; und ein sehr alter Mann, der mit geschlossenen Augen ruhig liegt und leise schmatzend Luft kaut.

Nicht wie im Fernsehen

Wer in der Notaufnahme ankommt, wird in den Triage-Raum geschickt. Nach dem Manchester-System unterteilt eine Pflegekraft dort die Patienten in fünf Kategorien: sofort, sehr dringend, dringend, normal, nicht dringend. Vier von zehn Ankömmlingen fallen unter eine der letzten beiden Gruppen. "Das System wird permanent von Menschen geflutet, die hier falsch sind", sagt ein Arzt.

Sechs Liegen passen in den Warteraum vor den Behandlungsboxen der Notaufnahme. Eine lässt sich noch im Durchgang zur nächsten Station platzieren. Dann wird es eng. Links neben den Liegen stehen 14 Rollstühle mit hohen Rückenlehnen und aufklappbarem Fußteil. Fünf Frauen warten dort, alle hängen mehr im Stuhl, als dass sie sitzen. Ihre Köpfe sind zur Seite oder nach vorne gekippt. Eine nestelt an ihrem Taschentuch. "Komm ich eh dran?", raunt sie in Richtung ihrer Sitznachbarin. Die antwortet nicht.

Dienstag, 15 Uhr, ein normaler Nachmittag in der Notaufnahme der Klinik Ottakring. Niemand rennt, die Pflegerinnen und Pfleger sind freundlich, jeder scheint zu wissen, was er oder sie zu tun hat; keine Hektik, kein Blut, es ist nicht wie im Fernsehen. Es ist aber auch ein eher ruhiger Tag. Noch.

Die Notaufnahme der Klinik Ottakring gilt als eine der am meisten überlasteten Stationen Österreichs.
Foto: Heribert Corn

Reserven werden weniger

Komm ich eh dran? Diese Frage stellen sich derzeit viele Menschen. Immer öfter setzen Ärztinnen, Mediziner und Pflegepersonal Hilferufe ab. Die letzte Gefährdungsanzeige verließ am 11. April die Klinik Ottakring. Darin wird vor einem "Zusammenbruch der suffizienten Patientenversorgung" gewarnt. Die Überlastung drohe nicht, sie sei Alltag.

Kommt man als Notfall also womöglich nicht dran? Oder zumindest: nicht so schnell oder in dem Ausmaß, wie man sollte? Die Antworten auf diese Frage fallen unterschiedlich aus. Je nachdem, wen man fragt.

Im Wiener Gesundheitsverbund, dem städtischen Spitalsbetreiber, heißt es: Die Versorgung sei selbstverständlich immer gewährleistet. Ein Ausfall der Notaufnahme in Ottakring stehe "nicht zur Diskussion".

Fehlende Ressourcen

Peter Gläser, der ärztliche Direktor des Krankenhauses, sagt: "Wir stehen sicher nicht vor einem Totalausfall, aber unsere Reserven werden immer weniger. Ich will nichts schönreden, aber es ist alles nicht so schwarz-weiß wie zuletzt oft medial dargestellt."

Eine Notfallmedizinerin der Klinik, die anonym bleiben möchte, antwortet: "Wir alle tun zu jeder Zeit unser Möglichstes. Aber es kommt regelmäßig zu Situationen, in denen aus Mangel an Zeit und Personal medizinische Standards nicht mehr eingehalten werden können. Das muss man so offen sagen."

Ein Pfleger von der Station erzählt: Er gehe regelmäßig mit dem Gefühl nach Hause, dass er nicht alles tun konnte, was er tun sollte. "Weil die Ressourcen fehlen."

Aber: Was bedeutet das im Alltag eines österreichischen Emergency-Room?

Notfall zur Hauptverkehrszeit

16.30 Uhr. In der Notaufnahme Ottakring ging schon vor fast einer Stunde die Meldung ein, dass ein "Stroke" auf dem Weg ist. Schlaganfälle kommen oft mit Ansage. Jetzt wird eine Überstellung aus dem Hanusch-Krankenhaus erwartet. Dort war der ältere Herr wegen einer Sehstörung hingegangen.

"Time is brain", lautet ein Leitsatz in der Neurologie. Soll heißen: Bei einem Schlaganfall zählt jede Minute, um das Hirn zu retten. "Jetzt warten wir schon lange auf den", sagt ein Pfleger. In Ottakring ist alles für die Ankunft des Patienten vorbereitet. Eine der neun Notfallboxen wurde reserviert. In diesen kleinen Räumen, die zum Teil nur durch Vorhänge abgetrennt sind, können Patienten diskreter behandelt werden als im Warteraum.

Endlich kommt der "Stroke", ein Mann mit wildem grauen Haar, der auf seiner Trage sitzt. "Stau", sagt ein Rettungssanitäter. Viel Verkehr gebe es zu dieser Zeit immer in Wien.

Bis zum frühen Abend verläuft alles geordnet an diesem Dienstag. Aber die Stimmung in einer Notaufnahme kann binnen Sekunden umschlagen. Der nahende Tod kündigt sich nicht mit dem Sensenmann an, vieles passiert plötzlich und unerwartet.

"Das System wird permanent von Menschen geflutet, die
hier falsch sind", sagt ein Arzt.
Foto: Heribert Corn

32 Grad Körpertemperatur

Um 19 Uhr eskaliert die Lage in Ottakring. Das wird später in einer Überlastungsanzeige des Personals festgehalten: Auf Box eins liegt zur Zeit des abendlichen Schichtwechsels ein "intensivpflichtiger Patient", er hat 32 Grad Körpertemperatur. Plötzlich Herzalarm auf Box vier. Draußen warten acht Patienten, die seit ihrer Ankunft noch keinen Arzt gesehen haben. Die Zentrale kündigt einen "Stroke" an. Aus dem Triage-Raum kommt eine Frau im Schock. Ihr Blutdruck: 30/20. "Die Dienstübergabe kann nicht beendet werden", steht in dem Schreiben an den Spitalsbetreiber.

An diesem Abend wird auch noch ein blau angelaufener Patient im Warteraum gefunden werden, der sich übergeben hatte, erzählt jemand aus dem Personalstab.

Muss man also Angst bekommen? Sicher nicht, beteuert die Klinikleitung. Jeder werde bestmöglich betreut. "Als junger Mensch muss man keine Sorge haben", sagt eine Ärztin der Notaufnahme. "Aber je älter jemand ist und je mehr Vorerkrankungen jemand hat, desto eher können wir nicht mehr das Maximum anbieten. Weil wir es nicht schaffen."

Das Schicksal des Mannes mit "Stroke"-Verdacht vom Nachmittag nahm eine glückliche Wendung: kein Schlaganfall, eine Carotisstenose. Die kann man operieren. Prophylaktisch. Damit er auch künftig nicht zum "Stroke"-Patienten wird. (Katharina Mittelstaedt, 1.5.2023)