Ding Liren brauchte in der 14. Partie Ausdauer.

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Astana – Kaum jemand hätte es Ding Liren übelgenommen. Der Chinese, Nummer drei der Weltrangliste, hat bei dieser WM schon so viele zweischneidige Eröffnungsideen gebracht, ist dreimal in Rückstand geraten, nur um dreimal den Stand wieder auszugleichen: Wer hätte ihm einen Vorwurf gemacht, wenn er sich an diesem Samstag in der 14. und letzten klassischen WM-Partie einmal für den leichten Weg entschieden und ein schnelles Weiß-Remis abgeliefert hätte?

Aber Ding Liren hinterlässt, wenn man ihm zuhört, immer wieder den Eindruck, ein pflichtbewusster Mensch zu sein. Als er zu Anfang des Wettkampfs die Rückmeldung bekam, dass seine langen Aufenthalte im Ruheraum für Irritation beim Publikum sorgten, stellte der Chinese die neue Angewohnheit rasch ab – mag sein, nicht primär wegen der geäußerten Kritik, sondern weil Ding anfing, sich im Kampf um die WM zu Hause zu fühlen und deshalb auch seinen Platz am Brett fand.

Dennoch wirkt der Weltranglistendritte eben einfach wie einer, der nicht gerne halbe Sachen macht. Ein forciertes Weißremis in Runde 14, um schneller ins Schnellschachtiebreak zu kommen: Das wäre so eine halbe Sache gewesen.

Ding denkt

Anstatt eines schnellen Friedensschlusses hat Ding für seinen Gegner wieder einmal eine kleine Eröffnungsüberraschung vorbereitet. Gegen Nepomnjaschtschis erwartbaren Nimzowitsch-Inder greift der Chinese in Partie 14 erstmals im Match zu 5. Ld2, womit er wieder einmal das Mienenspiel seines Gegners in Bewegung bringt: Nepo schmunzelt, wiegt den Kopf hin und her, rollt mit den Augen.

Und dann passiert etwas, was in diesem Match ebenfalls schon fast lieb gewordene Gewohnheit ist: Nepo nimmt sich zunächst ein bisschen Zeit, um sein Gedächtnis zu durchforsten und sich für eine zur Matchsituation passende Reaktion zu entscheiden. Nachdem dieser Prozess beendet ist, knallt der Russe dann aber eine ganze Serie von Zügen voller Selbstbewusstsein heraus, ohne noch einmal relevant Bedenkzeit zu investieren.

Stattdessen ist es wieder einmal Ding Liren, der sich als erster tiefer in die Stellung und ihre Feinheiten verbeißt und nach Wegen sucht, den Schwarzen vor praktische Probleme zu stellen.

Forscher Ausritt

Mit 12. Sg5 glaubt Ding, einen solchen Weg gefunden zu haben: Der aggressive Springerzug bringt allerlei ziemlich direkte Mattideen am Punkt h7 ins Spiel und sieht gleich noch bedrohlicher aus, nachdem der Weiße die Anrempelung 12...h6 mit dem entschiedenen Randbauernaufzug 13. h4 beantwortet hat.

Erinnerungen an Partie acht werden wach, als Ding ebenfalls in einem Nimzo-Inder auf g5 einen Läufer opferte, damit die h-Linie öffnete und seinen Gegner par Mattangriff rasch an den Rand einer Niederlage brachte.

Mit der starken Riposte 13...Dc7! macht Nepo allerdings klar, dass er diesmal überhaupt keine Notwendigkeit sieht, das weiße Scheinopfer überhastet anzunehmen. Stattdessen schickt der Russe sein zweites Rössel nach f8, überdeckt damit das Mattfeld h7 und fragt den Weißen, was er mit seinem forschen Ausritt eigentlich erreicht hat.

Reinbeißen

Zu Dings Bedauern muss die Antwort lauten: eine leicht schlechtere Stellung. Denn nachdem der Weiße ein paar Entlastungsabtäusche zulassen muss, bleibt er nicht nur mit Entwicklungsnachteil aufgrund der versäumten Rochade, sondern auch noch mit einem betreuungsbedürftigen Bauern h4 zurück.

Nun heißt es für Ding: Zähne zusammenbeißen und auf zähe Verteidigung umschalten, damit dieser epische WM-Kampf für ihn nicht mit einer vernichtenden Weißniederlage zu Ende geht. Mit 21. Sc5 entscheidet Ding sich für den Weg der aktiven Verteidigung, auch wenn er seinem Gegner dafür zeitweilig einen Bauern überlassen muss.

Jan Nepomnjaschtschi, der ganz offensichtlich Blut geleckt hat, erhält den Druck für das nächste Dutzend Züge aufrecht, übersieht dann aber knapp vor der Zeitkontrolle eine gut versteckte Möglichkeit für Ding, weiteres Material zu liquidieren und sich in ein Turmendspiel mit Minusbauer zu retten.

Peinliche Befragung

Und die remisliche Tendenz von Turmendspielen ist nicht nur generell sprichwörtlich, sondern in diesem Wettkampf auch schon ein paar Mal unter Beweis gestellt worden. Auch in der letzten klassischen WM-Partie in Astana gelingt es Ding Liren, praktisch zu demonstrieren, dass ein aktiver Turm in solchen Fällen der Schlüssel zur erfolgreichen Verteidigung ist.

Zwar zieht Nepomnjaschtschi alle Register peinlicher Befragung, zwar muss Ding bis Zug 90 präzise auf jede dieser Fragen antworten, um nicht doch noch zu unterliegen – aber da der Chinese unter anderem deshalb die Nummer drei der Welt ist, weil er solche Prüfungen in aller Regel besteht, endet die Partie nach über sechs Stunden Spielzeit letztlich mit einem gerechten Unentschieden.

Tiebreak ante portas

Also dürfen sich die Schachfans am Sonntag auf ein Tiebreak mit verkürzter Bedenkzeit freuen, das nun entscheidet, welcher der beiden Kontrahenten der nächste Schachweltmeister wird. Ab 11 Uhr MEZ stehen zunächst vier Partien mit je 25 Minuten Bedenkzeit pro Spieler plus zehn Sekunden Zugbonus auf dem Programm.

Sollte es danach immer noch unentschieden stehen, wird gravierend weiter verkürzt: In diesem Fall müsste eine Serie von Blitzpartien den Ausschlag geben, wer Magnus Carlsen als Schachweltmeister entthront.

Nach der langen 14. Partie bleibt den Spielern zudem kaum Vorbereitungszeit auf das Tiebreak, das bereits rund 17 Stunden nach Ende der letzten Partie startet. Noch mehr als in den vergangenen Runden dürfte es eine Frage der besseren Nerven werden, wer sich am Sonntag in Astana zum Schachkönig krönt. (Anatol Vitouch, 29.4.2023)