Der neue Schachweltmeister heißt Ding Liren.

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Hände schütteln mit dem Verlierer Nepomnjaschtschi.

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Der Russe patzte in der vierten Schnellschachpartie des Tiebreaks.

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Astana – Als Jan Nepomnjaschtschi realisiert, dass es vorbei ist, wischt er mit zitternder Hand versehentlich ein paar der geschlagenen schwarzen Figuren vom Tisch. Dann führt der Russe noch einen letzten Zug aus, bevor er die Hand zur Aufgabe ausstreckt.

Ding Liren ergreift sie, verbirgt dann den Kopf in der Hand. Einen Moment lang sieht der von Emotionen überwältigte Chinese wie ein Geschlagener aus. Aber die Fakten erzählen anderes: Soeben hat Ding mit einem Schwarzsieg in der vierten Tiebreak-Partie als erster chinesischer Spieler die Schachweltmeisterschaft gewonnen. Er löst den nicht mehr angetretenen Magnus Carlsen als Titelträger ab und ist der erst 17. allgemein anerkannte Weltmeister in der 137-jährigen Geschichte des Championats.

Dreimal Remis

Das Schnellschach-Tiebreak bestach ebenso wie das gesamte Match durch Hochspannung und das ausgeglichene Spielstärke-Verhältnis der beiden Kontrahenten. In Partie eins überraschte Ding Liren seinen Gegner mit einer ungebräuchlichen Variante des Damenbauernspiels. Im taktisch komplizierten Mittelspiel verpasste der Chinese jedoch eine Gewinnchance und musste danach sogar froh sein, sich noch ins Unentschieden retten zu können.

In Partie zwei war es dann Jan Nepomnjaschtschi, der mit den weißen Steinen spielend in einer Spanischen Partie Druck ausübte, sich nach präziser Verteidigung Dings im Endspiel jedoch mit Remis bescheiden musste.

Mit dem Réti-System brachte Ding Liren in Partie 3 ein weiteres Mal eine in diesem Match noch unerprobte Eröffnung aufs Brett. Nepomnjaschtschi hatte jedoch keine Probleme, rasch in ein leicht schlechteres, aber einfach zu verteidigendes Endspiel abzuwickeln: Remis Nummer drei.

Damit wuchs vor Partie vier noch einmal bei Spielern wie Beobachtern die Anspannung. Hätte sie ebenfalls unentschieden geendet, dann wäre der WM-Titel anschließend im Blitzschach entschieden worden.

Russischer Problembär

Und darauf schienen beide Spieler keine gesteigerte Lust zu verspüren. Zumindest lässt sich Jan Nepomnjaschtschis Entscheidung, seinen Königsläufer in einem weiteren geschlossenen Spanier für viele Züge auf dem Feld b1 lebendig zu begraben, in dieser Weise interpretieren.

Ding Liren nahm die Gelegenheit, für einmal mit Schwarz auf Gewinn spielen zu können, dankend an und gruppierte seine Figuren geschickt für einen Angriff auf den weißen König um. Dann allerdings verrechnete sich der Chinese bei schwindender Zeitreserve und gab Nepomnjaschtschi damit Gelegenheit, seinen weißfeldrigen Problembären auf einen Schlag aus dem Winterschlaf zu holen.

Mit Ding in akuter Zeitnot drohte kurzfristig ein Kippen der komplizierten Partie zugunsten Nepomnjaschtschis. Der Schwarze verteidigte sich jedoch präzise, und alles schien auf ein viertes Remis und eine Fortsetzung des Matchs mit Blitzbedenkzeit hinzudeuten.

Ding macht's

Dann jedoch überspannte Nepo den Bogen entscheidend: Beim Opfer seines letzten verbliebenen Damenflügelbauern vertraute der Russe auf Kompensation durch seine aktiveren Figuren, übersah dabei aber eine auf den ersten Blick riskante Möglichkeit für Ding Liren, seinen Turm freiwillig in eine Fesselung zu begeben. Nun ebenfalls in hochgradiger Zeitnot fand Nepomnjaschtschi keine Möglichkeit, daraus taktisch Kapital zu schlagen und musste den schwarze Freibauern auf der a- und c-Linie bald recht hilflos beim Vorrücken zusehen.

Zwar wiesen die mitrechnenden Computerprogramme noch die eine oder andere Gelegenheit für Weiß aus, sich ins Remis zu retten. Mit kaum mehr Zeit auf der Uhr erwies sich diese Aufgabe für Jan Nepomnjaschtschi jedoch als unlösbar. Nach 69 Zügen gab der Russe auf, der damit zum ersten Mal in diesem Match eine seiner Weißpartien und zugleich die WM verlor.

Nach Carlsen

Ding Liren kommentierte seinen WM-Sieg direkt nach der letzten Schnellpartie emotional: "Ich kenne mich. Ich werde in Tränen ausbrechen", sagte der 30-Jährige aus Wenzhou in der chinesischen Provinz Zhejiang. Ding war über die gesamte, dreiwöchige Dauer des Matches nie vorne gelegen, hatte die Führungstreffer seines Gegners allerdings drei Mal durch eigene Siege erfolgreich ausgeglichen.

Der knapp unterlegene Jan Nepomnjaschtschi äußerte seine Enttäuschung darüber, das Match nicht bereits im klassischen Teil für sich entschieden zu haben: "Ich hatte so viele vielversprechende Stellungen." Nepomnjaschtschi verliert damit nach seiner Niederlage gegen Magnus Carlsen 2021 in Dubai das zweite WM-Finale in Folge.

Mit dem Sieg Ding Lirens zum Abschluss einer abwechslungsreichen und spannenden Weltmeisterschaft endet auch eine zehnjährige Ära: Erstmals seit 2013 heißt der Schachweltmeister nun nicht mehr Magnus Carlsen. (Anatol Vitouch, 30.4.2023)