In seinem Gastkommentar fordert Tobias Buchner, Vorsitzender des Unabhängigen Monitoringausschusses zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, eine systematische Veränderung unseres Schulsystems.

Bildung für alle? Menschen mit Behinderung klagen über Mängel im Bildungsbereich.
Foto: APA / Roland Schlager

Das Handelsgericht Wien hat entschieden: Die Republik Österreich diskriminiert Schulkinder mit Behinderungen. Konkret ging es im Gerichtsverfahren um persönliche Assistenz für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen in Bundesschulen. Durch persönliche Assistenz erhalten Kinder mit Behinderungen individuelle Unterstützung, sodass sie wie ihre nichtbehinderten Mitschülerinnen und Mitschüler den Unterricht besuchen können. Das Problem: Laut einem Rundschreiben des Bildungsministeriums steht nur Kindern mit einer körperlichen Behinderung Assistenz in Bundesschulen zu. Jene mit anderen Behinderungen sind aufgrund dieser Regelung von der für sie notwendigen Assistenz ausgeschlossen.

"Das Bildungsministerium hat angekündigt, dieses Urteil rasch umsetzen zu wollen. Das ist erfreulich, aber bei weitem nicht genug."

In der Realität bedeutet dies, dass Kinder und ihre Eltern zu Bittstellern werden, abhängig vom guten Willen der Bildungsadministration – und häufig schlicht nicht die Unterstützung erhalten, die sie für Teilhabe an Schule benötigen. Auf Basis mehrerer derartiger Erfahrungen von Eltern, insbesondere von Kindern im Autismusspektrum, hatte der Klagsverband gegen das Bildungsministerium prozessiert, um einen bundeseinheitlichen Anspruch auf persönliche Assistenz in Schulen zu erwirken, und nun recht erhalten. Das Bildungsministerium hat angekündigt, dieses Urteil rasch umsetzen zu wollen. Das ist erfreulich, aber bei weitem nicht genug. Denn die Causa der persönlichen Assistenz an Schulen stellt letztlich nur eines von vielen Symptomen dar, die auf eine Gesamtdiagnose verweisen: die system(at)ische Verletzung von Menschenrechten, wie sie in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen festgeschrieben sind.

Recht statt Gnade

Laut Artikel 24 dieser Menschenrechtskonvention müssen die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem aufbauen. Vereinfacht ist darunter zu verstehen, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit Kindern ohne Behinderungen Zugang zu Schulen und die für sie notwendigen Unterstützungsmaßnahmen erhalten – inklusive Rechtsanspruch darauf. Damit muss ein Strukturwandel einhergehen, und zwar von einem zweigleisigen System (Sonderschule oder Regelschule) hin zu einer Schule, in der alle Schülerinnen und Schüler qualitätsvoll gemeinsam lernen können.

Österreich hat die besagte Konvention unterzeichnet und sich offiziell seit 2009 an deren Umsetzung gemacht. Geschehen ist seitdem wenig. Im Gegenteil: Wie der jüngste Nationale Bildungsbericht gezeigt hat, sinkt ausgerechnet in der Phase der Umsetzung der Konvention der Prozentsatz an Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen, die in Bildungsstatistiken unter der Kategorie Sonderpädagogischer Förderbedarf (SPF) geführt werden, in Regelschulen.

"Es verdichten sich die Anzeichen einer chronischen Unterfinanzierung des Bereichs Bildung und Behinderung."

Wie zuletzt in Wien von einer Elterninitiative aufgezeigt, ist der Zugang zur elften und zwölften Schulstufe für viele Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen durch Zugangsbarrieren versperrt. Zudem verdichten sich die Anzeichen einer chronischen Unterfinanzierung des Bereichs Bildung und Behinderung. Schließlich hat das Ministerium, ausgehend von 2,7 Prozent Schülerinnen und Schülern mit SPF, seit langer Zeit die diesbezüglichen Ressourcen "gedeckelt" – obwohl die reale Quote bei mindestens 4,5 Prozent hält. Dies führt häufig auch zu einer schlechten Qualität des Unterrichts mit Schülerinnen und Schülern mit SPF in Regelschulen. Gleichzeitig werden Sonderschulen renoviert und sogar ausgebaut.

Beispiellose Ignoranz

Diese Symptome verweisen einerseits auf die Konturen eines Bildungssystems, das Menschen mit Behinderung strukturell benachteiligt. Andererseits zeigt sich hier das Gesamtversagen der Bildungspolitik bei der Umsetzung inklusiver Bildung, begleitet von einer beispiellosen Ignoranz gegenüber Menschen mit Behinderung und deren Rechten. Was tun?

Es ist nicht so, dass die angeführten Missstände nicht bekannt wären. Der Monitoringausschuss zur Überwachung der Umsetzung der UN-Konvention hat mehrmals darauf hingewiesen. Menschen mit Behinderungen haben unzählige Male die besagten Mängel angesprochen. Sie werden auch vonseiten der Bildungsadministration und Politikerinnen und Politiker gehört – einzig ändern tut sich nichts. Und wenn Maßnahmen zur Umsetzung inklusiver Bildung ergriffen werden, wie im Bildungskapitel des Nationalen Aktionsplans Behinderung, dann handelt es sich lediglich um kosmetische Korrekturen oder um phrasenhafte Bekenntnisse ohne solide Indikatoren zur Umsetzung. Was es jedoch bräuchte, wäre ein Plan, der auf eine den Inhalten der Konvention entsprechende systematische Veränderung unseres Schulsystems abzielt – unter Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen, die über die bloße Anhörung hinausgeht.

Die Umsetzung des Auftrags aus dem zu Beginn angesprochenen Urteil, die Verankerung des Rechtsanspruchs auf persönliche Assistenz in Schulen, wäre in diesem Zusammenhang ein erster Schritt in die richtige Richtung. (Tobias Buchner, 2.5.2023)