"Wir alle haben diesen Negativity-Bias, diese Vorliebe in unserem Gehirn, negative Informationen schneller, besser und intensiver zu verarbeiten. Einfach weil wir noch ein Steinzeithirn in uns tragen, das versucht, uns am Leben zu erhalten", sagt Maren Urner.

Foto: Lea Franke

"Die Kernaufgabe von Journalismus besteht darin, Menschen zu informieren und handlungsfähig zurückzulassen. Sie besteht nicht darin, unserem Steinzeithirn kurzfristig einen kleinen Kick zu geben und es im schlimmsten Falle zu überfordern und krank zu machen", sagt Neurowissenschafterin Maren Urner. "Die größte Aufgabe unserer Zeit ist, zu filtern. Journalismus ist ein Fokus-Business. Er muss also clever weglassen und auswählen, statt die maximale Anzahl an Mini-Snippets zu liefern, die sowieso keiner einordnen kann."

STANDARD: Hauptsorge von Medienbetreibern ist 2023 laut Reuters Institute, dass Menschen zunehmend Nachrichten vermeiden. Warum machen wir das, und was geht da in unserem Gehirn vor?

Urner: Das ist ein Schutzmechanismus, dessen wir uns oft nicht bewusst sind. Unser Körper will uns vor Überbeanspruchung schützen. Durch die Digitalisierung können wir immer mehr Inhalte auf vielen Kanälen vermeintlich gleichzeitig konsumieren, unser Gehirn und Körper insgesamt kommen da oft nicht mehr hinterher. Weil die Informationsverarbeitung nicht mit der Informationsaufnahme abgeschlossen ist und Zeit für Verarbeitung fehlt. Es geht mittlerweile nicht mehr nur darum, zu sagen, mal eine Pause einzulegen, sondern um die Förderung psychischer Krankheiten. Wir haben uns hier eine Infrastruktur geschaffen, die uns nicht mehr primär gut informiert, sondern auch schädlich ist und krank machen kann.

STANDARD: Sind daran die Medien schuld? Wird der Fokus der Berichterstattung zu sehr auf Negatives gelegt?

Urner: Natürlich ist das ein Gesamtsystem. Statt die immer gleiche Frage nach der Schuld zu stellen, möchte ich lieber fragen, was wir ändern können, um es besser zu machen. Was passiert denn da? Es ist ein Teufelskreis. Wo kommt unsere Vorliebe für alles Negative her? Wir alle haben diesen Negativity-Bias, diese Vorliebe in unserem Gehirn, negative Informationen schneller, besser und intensiver zu verarbeiten. Einfach weil wir noch ein Steinzeithirn in uns tragen, das versucht, uns am Leben zu erhalten. Und eine verpasste negative Nachricht kann im schlimmsten Fall unser Leben bedrohen. Das ist biologisch ganz tief in uns verankert, und wir können es nicht abschalten – egal, wie sehr wir uns das wünschen oder darüber nachdenken.

STANDARD: Heißt das, dass negative Nachrichten nach wie mehr geklickt und gelesen werden?

Urner: Ja. Wenn wir uns anschauen, was klickt am meisten, sehen wir, dass mit jedem negativen Wort in der Überschrift die Wahrscheinlichkeit des Klicks um 2,3 Prozent steigt. So das Ergebnis einer aktuellen Studie. Selbst wenn Menschen sagen, sie möchten mehr lösungsorientierten Journalismus, tendieren wir alle besonders in stressigen Situationen und Lebenslagen dazu, noch mehr auf Negatives zu klicken, da unser Gehirn auf die kurzfristigen Überlebensstrategien zurückgeworfen wird. Wir können das nur ändern – und darum sind Journalist:innen und Produzent:innen so wichtig –, indem wir eine andere Infrastruktur und eine andere Umgebung schaffen.

STANDARD: Was braucht es dafür, und was ist die Aufgabe von Journalismus?

Urner: Die Kernaufgabe von Journalismus besteht darin, Menschen zu informieren und handlungsfähig zurückzulassen. Sie besteht nicht darin, unserem Steinzeithirn kurzfristig einen kleinen Kick zu geben und es im schlimmsten Falle zu überfordern und krank zu machen. Wir brauchen also viel mehr konstruktiven und lösungsorientierten Journalismus, der die Kernaufgabe von Berichterstattung erfüllt. Ich habe Hoffnung, weil dieses Thema in den vergangenen Jahren viel präsenter diskutiert wurde und 2023 keine Nische mehr ist. Das habe ich zuletzt beim Internationalen Journalismus-Festival in Perugia Mitte April erleben dürfen. Auch bei den großen Fragen unseres Zusammenlebens, allen voran die Klimakrise und planetare Grenzen, werden genau diese Ansätze sehr gut diskutiert.

"Die größte Aufgabe unserer Zeit ist, zu filtern. Journalismus ist ein Fokus-Business. Er muss also clever weglassen und auswählen, statt die maximale Anzahl an Mini-Snippets zu liefern, die sowieso keiner einordnen kann."

STANDARD: Wie geht konstruktiver Journalismus bei Medien, die auf Reichweite angewiesen sind und hunderte Artikel pro Tag veröffentlichen?

Urner: Genau diese Medien müssen sich fragen: Brauchen wir noch mehr? Noch schneller? Wir alle sind in diesem Strudel drin, der uns ermöglicht, in jedem Moment Zugang zu endlos vielen Informationen zu bekommen. Die größte Aufgabe unserer Zeit ist, zu filtern. Journalismus ist ein Fokus-Business. Er muss also clever weglassen und auswählen, statt die maximale Anzahl an Mini-Snippets zu liefern, die sowieso keiner einordnen kann. Das Stichwort der Einordnung ist hier ganz wichtig. Sie regt zum Denken an. Und die Zahlen bestätigen das. Menschen sind bereit, für Journalismus zu zahlen, der ihnen Hintergründe und Perspektiven gibt. Nicht für die schnellen Informationen und News, die es sowieso überall "gratis" gibt.

STANDARD: Filtern heißt weglassen und auswählen, da kommt dann oft der Vorwurf, nicht objektiv zu berichten.

Urner: Es kann keinen objektiven Journalismus geben. Die Kriterien, wonach eine Redaktion und Journalist:innen auswählen und weglassen, sind immer geprägt durch die Menschen und die Werte des Mediums, für das jemand arbeitet. Die subjektiven Entscheidungen betreffen sämtliche journalistischen Prozesse: von der Themenauswahl über die befragten Quellen wie der Suche nach Expert:innen bis hin zu Bild-, Ton- und Wortwahl im finalen Beitrag. So zu tun, als würde das auf eine neutrale und objektive Weise passieren, ist eine Fata Morgana. Wir müssen viel mehr erklären, wie Journalistinnen und Journalisten arbeiten. Das schafft Vertrauen und Glaubwürdigkeit.

"Unserem Gehirn fällt es aber schwer, langfristig zu denken und zu planen. Das ändert sich gerade zwangsläufig, da wir die direkten und indirekten Folgen der Klimakrise nun im Tagesrhythmus sehen und teilweise selbst erleben."

STANDARD: Apropos über die eigene Arbeit reden: Wenn wir konkret das Beispiel Klimajournalismus anschauen – was ist hier falsch gelaufen?

Urner: Sehr vieles! Psychologisch gesehen wurden lange Zeit die drei Elemente der Nähe vernachlässigt, die wichtig sind, damit Menschen sich betroffen fühlen. Es sind die zeitliche, die räumliche und die soziale Nähe. Die zeitliche Nähe war lange Zeit ein Problem im Klimajournalismus, da es meist hieß: Das passiert in ein oder zwei Jahrzehnten! Unserem Gehirn fällt es aber schwer, langfristig zu denken und planen. Das ändert sich gerade zwangsläufig, da wir die direkten und indirekten Folgen der Klimakrise nun im Tagesrhythmus sehen und teilweise selbst erleben. Egal, ob es die Waldbrände, Überflutungen oder Hitzetoten sind: Es sind keine Prognosen mehr, sondern ist Alltag überall auf der Welt.

STANDARD: Und wie steht es um die räumliche und soziale Nähe?

Urner: Bis vor wenigen Jahren wurde die Klimakrise mit Eisbären illustriert, die sind räumlich und sozial maximal weit von uns entfernt. Die räumliche Nähe brauchen wir, um zu handeln – das haben wir alle bei Corona am eigenen Leibe erlebt, als die Bilder nicht mehr nur aus China kamen, sondern aus Italien. Am zentralsten ist vielleicht die soziale Komponente. Warum berührt mich eine Meldung, dass der Ozean wärmer oder dass der Meeresspiegel steigt, im ersten Moment nicht? Ganz einfach: weil ich nicht im Wasser lebe.

Neben diesen drei Arten der Nähe ist natürlich die massive Lobbyarbeit der sogenannten "Händler des Zweifels" tragisch. Sie haben die letzten Jahrzehnte damit verbracht, Zweifel am wissenschaftlichen Konsens zum menschengemachten Klimawandel zu säen. Ihre Motivation? Kurzfristige finanzielle Interessen, inklusive die mancher Medien – siehe Fox-Eigentümer Rupert Murdoch oder Springer-Chef Mathias Döpfner. Das ist nicht nur falsch, sondern kostet Menschenleben. Jeden Tag. (Astrid Ebenführer, 2.5.2023)