Luca Brecel mit Vater Carlo, Freundin Laura Vanoverberghe und Mutter Mirella.

Foto: IMAGO/Pro Sports Images

Brecel ballt die Faust nach seinem Sieg im Halbfinale.

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Einen schlechten Ruf wird man nur schwer wieder los. Snooker-Profi Luca Brecel will den seinigen gar nicht verlieren, er ist ihm wurscht. Die Szene hält ihn für talentiert, sagt ihm gleichzeitig aber nach, er vergeude sein Potenzial. Der 28-Jährige gilt nicht als der Fleißigste, er trinkt gerne ein Bier, feiert eine Party mit Freunden, wenn ihm danach ist.

Sein locker-lässiger Zugang hat zum Erfolg geführt. Am Montag krönte sich der Belgier im Crucible Theatre in Sheffield (England) erstmals zum Weltmeister. Sein Weg zum Titel hätte kaum spektakulärer sein können. Im Viertelfinale lag er im Match gegen die Snooker-Legende Ronnie O’Sullivan klar mit 6:10 zurück, siegte aber 13:10. Im Halbfinale sorgte er gar für eines der größten Comebacks der WM-Geschichte. Gegen den Chinesen Si Jiahui stand es bereits 5:14, Brecel entschied die Partie noch mit 17:15 für sich. Im Finale bezwang er dann den viermaligen Weltmeister Mark Selby 18:15. Brecel behauptet, der Erfolgslauf sei nur aufgrund seiner Lockerheit möglich gewesen. Und er behauptet, er habe während des Turniers bis in die Morgenstunden Bier getrunken und auf der Playstation Fifa gezockt.

Brecel spielt flott und riskant, das brachte ihm den Spitznamen "The Belgian Bullet" ein, das belgische Projektil. Im Vergleich zu Kontrahenten überlegt er nicht lange, spielt intuitiv; bei kniffligen Stellungen haut er manchmal einfach auf die weiße Kugel und hofft auf das Beste, anstatt Kraft in einen komplizierten Stoß zu investieren. Das ärgert manche Traditionalisten, die die Spielweise als respektlos deuten, die meisten finden Brecel hingegen spektakulär. Auch Legende O’Sullivan gefällt’s. "Er ist ein so dynamischer Spieler, wahrscheinlich der talentierteste Snooker-Spieler, den ich je gesehen habe", sagte er nach dem Duell mit dem Belgier. "Genau so gehört Snooker gespielt."

Gesetze der Anziehung

Brecel wuchs in einer ländlichen Gegend im Nordosten Belgiens als jüngstes von drei Kindern auf. Seine Mutter hat italienische, sein Vater bosnische und slowenische Wurzeln. In der frühen Kindheit spielte Brecel Fußball, seinen Verein verließ er aber nach ein paar Jahren, weil er mit Asthma und Heuschnupfen zu kämpfen hatte.

Im Italien-Urlaub hatte der Vater einmal genug von Strand und Sonne und ging mit seinem Sohn in eine Spielhalle. Der kleine Luca verliebte sich dort in den Billardsport, der Vater fuhr ihn daraufhin regelmäßig zum Snooker-Training nach Hasselt. Früh feierte er große Erfolge: 2009 wurde er der jüngste Jugend-Europameister, drei Jahre später qualifizierte er sich als jüngster Spieler erstmals für eine Weltmeisterschaft.

"Ich rate niemandem, Profi zu werden", sagte Brecel einmal der belgischen Tageszeitung "De Standaard". Er erzählte von frustrierenden Reisen nach England zu Turnieren, für die er viel Geld ausgegeben hatte, nur um nach einer klaren Niederlage wieder heimzufahren. Der Frust entwickelte sich im Laufe der Jahre zu depressiven Phasen, Ärzte verschrieben ihm Pillen, die er eigenhändig wieder absetzte. Später als Profi litt er immer wieder an Hyperventilation.

Er fand einen Ausweg, indem er sich eine Wohlfühlzone formte mit Familie und Freunden. Sein Bruder konvertierte zum Islam, Brecel selbst kann mit Religion wenig anfangen. Er glaubt vielmehr an "die Gesetze der Anziehung", an eine gewisse übermenschliche Energie und an Karma. "Spaß muss sein", sagt Brecel, "sobald ich aber Anzug, Weste und Fliege überziehe, weichen alle Gedanken der einen Aufgabe: den Gegner vernichten." Sein Motto lautet: "Bescheiden bleiben. Groß denken. Alles kaputtspielen." Dass seine Arbeitsmoral gering ist, sei ein Mythos, sagt Brecel. Ja, er trainiere weniger als andere, gibt er zu. Aber er trainiere eben effizienter.

Freier Vogel

Ein Belgier wird Snooker-Weltmeister, das gilt als unerhört. Brecel entschied sich einst gegen einen Umzug in die Snooker-Hochburg England, er blieb lieber in Belgien, wenn dies auch bedeutete, dass er im Training auf spielstarke Gegner verzichten muss. Erst zum vierten Mal in der Crucible-Ära (seit 1977) kommt ein Weltmeister nicht aus Großbritannien. Vor Brecels Erfolgslauf gelang keinem anderen Kontinentaleuropäer bei der WM auch nur ein Match-Sieg. Der Titel macht Spielern des ganzen Festlands nun Hoffnung auf ähnliche Erfolge, auch dem Österreicher Florian Nüßle, der sich in Salzburg ein eigenes Trainingsumfeld geschaffen hat. In der Qualifikation zur diesjährigen WM gelang ihm immerhin ein Sieg, ehe er dem späteren Halbfinalisten Si unterlag.

Auch wenn man es in seiner Arbeitskluft kaum sieht, Brecel hat unzählige Tattoos. Das erste war das Wort "Believe", auf seinen Fingerknochen steht "Free Bird". Brecel, der freie Vogel, der stets an sich selbst glaubt. An anderer Stelle hat er sich das Gesicht seines Lieblingsrappers The Game tätowiert. Er fährt einen BMW i8 und trägt eine Rolex. Man könnte glauben, Brecel sieht sich selbst als der Gangsterrapper der Snooker-Tour.

Auftritt in Wien

Nach dem Finalsieg bei der WM sagte Brecel, er habe eigentlich viele Fehler gemacht, könne daher in Zukunft noch viel besser spielen. Mit seinen 28 Jahren zählt er zu der jungen Generation, es klingt wie eine Kampfansage an die Konkurrenz. "Ich habe noch so viel Zeit, hoffentlich kommen viele weitere Titel hinzu." Eigentlich kündigte Brecel an, nun ein paar Monate durchfeiern zu wollen. Ganz richtig war das nicht: Schon am Freitag spielt Brecel sein erstes Match bei den Vienna Snooker Open, zum ersten Mal bestreitet ein Weltmeister ein Turnier in Österreich.

Finalgegner Selby war voll des Lobes für Brecel. "Leute sagen vielleicht, das war einmalig, er wird das nie wieder schaffen. Aber du gewinnst eine WM nicht zufällig. Es überrascht mich nicht, ich wusste, wozu er fähig ist." Nachdem Brecel für Fotos posiert und bei der Pressekonferenz alle Fragen der Medienleute beantwortet hatte, tauchten Videos und Fotos von ihm und Selby auf. Sie stehen in einem abgedunkelten Raum, machen Selfies. Sie halten beide ein Bier in der Hand. (Lukas Zahrer, 2.5.2023)