Die Geschichte klingt irgendwie vertraut. Als die Lockdowns und die strenge Corona-Politik zu Ende waren, alles aufsperrte und der Aufschwung einsetzte, stellte sich heraus, dass etwas Wichtiges fehlt oder genauer gesagt knapp wird: Menschen, die arbeiten. Seither wird aufgeregt diskutiert, wie die Lücke gefüllt werden kann. Mit mehr Einwanderern oder mehr Rucksacktouristen und dem, was Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiten an Extras anbieten können, damit diese mehr Arbeitsstunden machen?

Rucksacktouristen? Ja. Diese Geschichte spielt nämlich nicht irgendwo in Wien, Graz oder Linz, sondern in Sydney, Brisbane und Perth. Australien erlebt aktuell die größte Arbeitskräfteknappheit seiner jüngeren Geschichte. Laut dem Statistikamt sind im Land aktuell 445.000 Jobs unbesetzt. Das ist etwa der doppelte Wert verglichen zu vor der Pandemie und die höchste Zahl, seit Beginn dieser Aufzeichnungen in den 1980er-Jahren. Etwa jedes vierte Unternehmen im Land gibt an, Leute einstellen zu wollen.

Nicht nur zum Vergnügen da: Viele Rucksacktouristen kommen zum Arbeiten nach Australien.
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Niedrige Arbeitslosenrate

Australien gehört mit den USA, Japan und Kanada zu den vier entwickelten Staaten, mit der aktuell niedrigsten Arbeitslosenrate, sagt die Industriestaatenorganisation OECD. Und dem höchsten Arbeitskräftemangel.

Betroffen sind zwar nahezu alle Wirtschaftssektoren, aber besonders laut ist das Wehklagen der Unternehmen im Bau-, der Landwirtschaft und im Tourismussektor. Wie kam es dazu? Australien gilt in internationalen Medien oft als abgeschottetes Land, das am liebsten gar keine Einwanderung zulassen würde. Tatsächlich ist das Gegenteil wahr.

"Australien verfügt über eines der expansivsten Einwanderungsprogramme der Welt", sagt Anna Boucher, Migrationsexpertin an der Universität Sydney. Tatsächlich ist Down Under laut OECD das Land mit dem zweithöchsten im Ausland geborenen Bevölkerungsanteil auf der Welt: 30 Prozent der Menschen sind woanders geboren. Zum Vergleich: Österreich liegt in dieser Statistik auf Rang sieben mit 17 Prozent im Ausland geborener Wohnbevölkerung. Jedes Jahr reisen unterm Strich netto zwischen 200.000 und 300.000 Menschen nach Australien ein, um hier dauerhaft oder vorübergehend zu leben und zu arbeiten.

Vorsicht vor den Schlangen

In der Pandemie ist dieser Zustrom kollabiert – gut eine halbe Million Arbeitskräfte kam nicht, weil die Grenzen dicht waren. Sie fehlen nun am Jobmarkt. Hier kommt eine interessante australische Besonderheit ins Spiel: Das Land braucht jedes Jahr hunderttausende junge Menschen, die als Rucksacktouristen den fünften Kontinent bereisen und dabei immer wieder für mehrere Wochen arbeiten.

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Bei Engländern, Iren, Franzosen, Italienern oder Deutschen ist das Modell beliebt – für diese Nationen gibt es keine Limits, wie viele Leute kommen dürfen. Australien setzt diese "Work and Holiday"- oder "Working Holiday"-Visa geschickt ein: Im ersten Jahr können die jungen Leute reisen, wollen sie aber noch eines bleiben, müssen sie 88 Tage arbeiten – und für das dritte Jahr schon 179 Tage. Das Modell wird vor allem in der Landwirtschaft genutzt. Junge Europäer in Sydney, die für Unternehmensverbände arbeiten, erzählen schon mal gern, wie sie früher auf Ananas-Plantagen bei brütender Hitze Obst gepflückt haben und darauf achten mussten, nicht auf Schlangen zu treten. Auch im Tourismus arbeiten viele Backpacker. Die Rucksacktouristen sind inzwischen zurück in Australien.

Das wird politisch forciert: Australiens Labor-Regierung unter Anthony Albanese will generell mehr Einwanderer ins Land holen, neben Rucksacktouristen sollen natürlich vor allem langfristig arbeitswillige Migranten angelockt werden. Heuer könnten laut Schätzungen erstmals über 400.000 Menschen nach Australien zuwandern, also deutlich mehr als vor der Pandemie. Unter anderem werden Interessierte damit gelockt, dass ihnen Visagebühren erstattet werden.

In der Landwirtschaft zählen Touristen als beliebte Arbeitskräfte. Ein Jahr dürfen sie reisen, danach müssen sie auch etwas dafür tun, um im Land zu bleiben.
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Arbeitsmigration: ja, Asylwerber: nein

Ist diese forcierte Einwanderung im Land strittig? Während Australien sich gegenüber Asylwerbern abschottet, gelten Formen der Arbeitsmigration gesellschaftlich als unumstritten, sagt Migrationsexpertin Boucher. Die meisten Zuwanderer kamen früher aus Europa, heute stammen sie zusehends aus dem asiatischen Raum, aus Indien, aber auch China.

Das Modell hat natürlich auch seine Schwächen. Dazu zählt, dass es auch seine Schattenseiten hat, auf hunderttausende Rucksacktouristen zu setzen, um Saisonarbeit zu erledigen.

"Sie kommen her, ich bilde sie mehrere Wochen aus, dann arbeiten sie kurz und verpissen sich wieder", sagt ein sichtlich wütender Steve. Der Mann mit den schwarz-grauen Haaren und strengem Gesichtsausdruck ist Eigentümer von First Fleet Bar & Bistro, dem angeblich ältesten Pub von Sydney, gleich beim Hafen in der Innenstadt. Arbeitskräfte seien in der Vergangenheit auch schon immer wieder knapp gewesen, aber so einen Mangel wie jetzt habe er noch nicht erlebt, erzählt Steve.

Die Lücke versucht er mit Rucksacktouristen zu füllen, normalerweise sei ein Viertel seiner Belegschaft Urlauber, aktuell fast Zweidrittel. Das Problem ist, die Urlauber sind nicht sehr verlässlich. Die Verträge mit ihnen beruhen auf mündlichen Absprachen, wem der Kopf nach anderem steht, der geht. Dazu kommt, dass der Umgangston in Lokalen oft schroff ist und die Arbeitszeiten fordernd. Steve erzählt, dass Einheimische immer seltener im Tourismus arbeiten wollen – auch das eine Parallele zu Österreich. Das mag auch daran liegen, dass andere Branchen Menschen mit interessanten Angeboten locken.

Australiens Premier Anthony Albanese ist sich des Fachkräftemangels bewusst und will mehr Ausländer ins Land holen.
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Unternehmen locken mit mehr Karenz, die Armee mit mehr Geld

Dazu gehört, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern längere Karenzzeiten anzubieten. Laut einer Auswertung von Indeed, einer großen Online-Jobplattform in Down Under, ist die Zahl der Stellenanzeigen, in denen Eltern von Unternehmen extra bezahlte Elternkarenz angeboten wird, um 60 Prozent gestiegen. Australien gehört zu jenen Industrieländern mit kürzester Möglichkeit für bezahlte Karenz: Aktuell gibt es gerade einmal 18 Wochen, freie Zeit vor der Geburt zählt da schon mit. Der Partner kann zwei Wochen mit vollem Gehalt von der Arbeit wegbleiben. Wer länger zu Hause sein möchte, bekommt nur den Mindestlohn. Private Firmen bieten zunehmend Extra-Karenzzeiten als Goodie an. Auch mit extensiven Homeoffice-Angeboten wird gelockt.

Ob mehr Einwanderung und solche Sonderkonditionen reichen, um die Lücken zu schließen, wird sich zeigen. Aktuell sucht auch Australiens Armee händeringend Soldatinnen und Soldaten, die Quoten für eine geplante Aufstockung der Truppe zu erreichen erweist sich als zusehends schwer. Die Opposition und Militärexperten fordern daher, den Dienst auch für ausländische Staatsbürger der pazifischen Anrainerstaaten wie Fidschi oder Papua-Neuguinea zu öffnen – die Regierung erwägt die Idee. Derweil hat sie schon angekündigt, jedem Soldaten, der seine Dienstzeit verlängert, einen saftigen Bonus über 50.000 australische Dollar, das sind etwa 30.000 Euro, auszubezahlen. (András Szigetvari aus Brisbane, 6.5.2023)