Vor 70 Jahren wurde Queen Elizabeth II. in London gekrönt.

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Die hochschwangere Edith Waldmann traf sich mit Freunden in Johannesburg, um das Geschehen am Radio zu verfolgen.

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Bei Ann Fletts Tante versammelte sich die gesamte Großfamilie für die Krönung vor dem eigens ausgeliehenen Fernseher.

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Malcolm Mackenzie war live vor Ort und machte sich Gedanken über einen blutig geschlagenen Protestierer.

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Für Malcolm Mackenzie begann der Tag um drei Uhr morgens. An der Hand seiner Mutter bestieg der Zehnjährige am 2. Juni 1953 in einer der Londoner Vorstädte die U-Bahn, die – damals ungewöhnlich – schon so früh verkehrte. Mit jedem Meter des Fußmarsches vom Piccadilly Circus zum Ziel in der Straße Whitehall, mitten im Regierungsviertel, stieg die Aufregung des Schuljungen. "Pass gut auf alles auf", lautete die Mahnung seiner Mutter, wie sich der 80-Jährige heute erinnert: "'So etwas siehst du nie wieder.' Wie recht sie hatte."

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DER STANDARD

Fast 70 Jahre sind seit jenem regnerischen, kühlen Dienstag im Juni vergangen. Der Sozialarbeiter Mackenzie lebt heute in der Pension in der britischen Hauptstadt und gehört zur kleinen Minderheit der Bevölkerung, die sich noch erinnern kann an den Tod von König George VI. und der Nachfolge seiner damals gerade 25-jährigen Tochter Elizabeth II. Und an den Krönungstag, mit dem das bevorstehende Spektakel an diesem Samstag nun verglichen wird.

Mitleid für Protestierer

Vom ersten Stock eines Balkons im damaligen Verteidigungsministerium aus beobachtete der Bursche damals die nicht enden wollende Parade von Truppen aus allen Ecken des damals gerade noch bestehenden britischen Empire. Er bemitleidete einen stark blutenden Protestierer, den vier bullige Polizisten zur Wache eskortierten, und bewunderte die Königin von Tonga. Anders als zarter besaitete Gäste und im Einklang mit der Tradition ihrer Südseeinsel hatte Salote Tupou III. nämlich einen Baldachin für ihre Kutsche verweigert. Im strömenden Regen saß die riesige Frau in ihrem Gefährt und nahm ungerührt die Begeisterungsrufe der Schaulustigen zur Kenntnis.

Diesmal haben die Verantwortlichen die Route verkürzt und Tausende weniger Soldaten abkommandiert. Mag sein, dass es auch diesmal regnet und dass Protestierer von den Ordnungskräften rau behandelt werden. Mackenzie jedenfalls wird diesmal nicht unter den hunderttausend Schaulustigen sein, die am Samstag die Straßen säumen dürften. Wie der Rest der Bevölkerung werde er sich die Zeremonie in der Westminster Abbey "im Fernsehen anschauen".

Gemieteter Fernseher

Was hätte Ann Flett dafür gegeben, vor 70 Jahren vor Ort zu sein! Auch ihr Vater arbeitete damals in der Regierungsbürokratie und war an drei begehrte Tickets gekommen. Begleiten durften den Vater jedoch Fletts ältere Brüder; die Zehnjährige war hingegen Teil "der Medien-Revolution, welche die Briten zu Stubenhockern machte", wie der Historiker Ben Pimlott später schrieb: Erstmals wurde ein globales Ereignis live im Fernsehen übertragen, über Nacht verdoppelte sich die Zahl der Besitzer oder Entleiher von Fernsehgeräten. Freilich mussten sich Elizabeths Untertanen in Übersee mindestens einen Tag gedulden, bis Kopien der BBC-Aufzeichnung auch in Kanada, Ghana oder Australien zu sehen waren.

Flett jedenfalls hockte mit rund einem Dutzend Personen im Wohnzimmer ihrer Tante, die eigens für den Tag ein TV-Gerät gemietet hatte. "Es war alles wahnsinnig aufregend. Alle paar Minuten musste wieder zur Stille gemahnt werden. Und alle wollten etwas sehen, dabei war der Bildschirm gerade mal so groß wie heute ein Laptop, übrigens natürlich nur in Schwarzweiß", erinnert sich die Nord-Londonerin.

In der Schule waren den Kindern zuvor wochenlang die Details von Parade und Krönungsgottesdienst eingetrichtert worden, sodass die Zehnjährige gut Bescheid wusste. Leider kann sie das entsprechende Bilderbuch nicht mehr finden.

Royals nur im Hintergrund

Deutlich distanzierter verfolgte Edith Waldmann die Geschehnisse jenes Tages. Mit ihren jüdischen Eltern hatte das Mädchen 1938 aus Wien fliehen müssen, ein Großonkel ermöglichte der Familie die Ausreise über Triest ins damalige Rhodesien (heute Zimbabwe). Erst durch die Heirat mit einem Südafrikaner hatte die bis dahin staatenlose junge Ärztin die britische Staatsbürgerschaft erhalten. Im Juni 1953 war Waldmann hochschwanger und absolvierte in Johannesburg eine Fortbildung zur Tropenmedizinerin: "Die Royals gab es irgendwie im Hintergrund, aber sonderlich interessiert war ich nicht. Und die Südafrikaner auch nicht", lautet die Erinnerung der 95-Jährigen, die seit 30 Jahren in West-London lebt.

Die Krönung selbst erlebten Waldmann und ihr Mann mit Nachbarn und Freunden im Garten vor dem Radio. "Unsere Vermieter kamen aus England, die waren natürlich interessiert. Und übrigens auch froh, in der Nachkriegszeit nicht dort zu leben." Tatsächlich waren im Königreich 1953 manche Lebensmittel noch immer rationiert. Mit gutem Gespür für die Sehnsüchte der Bürger ließ Premier Winston Churchill rechtzeitig die bis dahin geltende Beschränkung für Zucker aufheben. Diesmal stöhnen die Briten unter der Last hoher Energiepreise und der zweistelligen Inflationsrate bei Lebensmitteln – noch so ein Grund, warum die Feiern rund um die Krönung deutlich zurückhaltender ausfallen als vor 70 Jahren.

Kopfschütteln über Kosten

Für Edith Waldmann fällt der royale Pomp immer noch mehrere Nummern zu groß aus: "Ich finde es ziemlich obszön, so viel Geld in die Feiern zu stecken", sagt sie und schüttelt den Kopf über die Summe von 100 Millionen Pfund, von der in den Medien die Rede ist. "Auf keinen Fall" will sie auf das Wohl des Königs trinken. Immerhin wird in ihrem Nachbarschaftsgarten zu Ehren des Naturschützers Charles ein Baum gepflanzt, "das finde ich gut".

Auch Ann Flett zeigt sich "nicht sehr interessiert" am samstäglichen Geschehen und spiegelt damit wider, was viele Briten den Meinungsforschern gesagt haben. Wie die Mehrheit der Bevölkerung will sie an der Monarchie festhalten, aber eher aus pragmatischen Gründen als aus Überzeugung: "Charles macht das ordentlich. Er ist mir lieber als irgendein Politiker." Großbritannien ohne Monarchie, das sei doch nicht recht vorstellbar.

Ähnlich gelassen sieht die Angelegenheit auch Malcolm Mackenzie. Am Abend jenes Junitages vor 70 Jahren beschäftigte den todmüden Zehnjährigen weniger die frisch gekrönte Monarchin, als vielmehr zwei Menschen, die großen Eindruck auf ihn gemacht hatten. "Ich dachte an den Mann in der Polizeizelle, der den ganzen Spaß versäumte. Und ich hoffte, dass die Königin von Tonga sich nicht erkältet hatte." (Sebastian Borger aus London, 5.5.2023)