Rund acht Prozent der Männer im deutschsprachigen Raum müssen mit einer der beiden Varianten einer Rot-Grün-Sehschwäche leben. Dass nur 0,4 Prozent der Frauen betroffen sind, liegt an der Tatsache, dass diese Sehstörung genetisch bedingt ist und die entsprechenden Gene für das rot- und grünempfindliche Photopigment auf dem X-Chromosom sitzt, wovon Männer bekanntlich nur eines besitzen. Bisher gab es keine Heilung für eine angeborene Störung des Farbsehens, doch ein Fall in den USA legt nahe, dass bei einem solchen Zustand halluzinogene Pilze zumindest helfen könnten.

Laut dem im Fachjournal "Drug Science, Policy and Law" vorgestellten Case Report erlebte ein 35 Jahre alter Patient an der Cleveland Clinic in Ohio, USA, nach der Einnahme von Magic Mushrooms eine nachhaltige Verbesserung seiner eingeschränkten Fähigkeit, Farben zu unterscheiden. Nach Ansicht des Teams rund um Brian S. Barnett sei dies ein starker Hinweis darauf, dass das Alkaloid Psilocybin, das für die psychedelische Wirkung der Pilze verantwortlich ist, die Verarbeitung visueller Eindrücke beeinflussen kann – und das, obwohl Farbenblindheit in den meisten Fällen und insbesondere im konkreten Fall eine genetische Erkrankung ist.

Links die Originalvariante des
Gemäldes "Bäume im Herbst" (1921) der US-Künstlerin Georgia O'Keeffe. Rechts dasselbe Bild, wie es jemand mit der Rot-Grün-Sehschwäche Deuteranopie sehen würde.
Foto: AP/Georgia O'Keeffe Museum

Effekt nach einer Dosis

Der betroffene Mann litt an der häufigsten Form der Rot-Grün-Blindheit, einer sehr leichten Ausprägung von Deuteranopie. Bei dieser Sehstörung kommt ein Defekt bei den sogenannten M-Zapfen zum Tragen, die für die Wahrnehmung mittlerer Wellenlängen zuständig sind und hauptsächlich auf Licht im grünen Farbbereich reagieren. Betroffenen fällt es bei Deuteranopie schwer, Grün von Rot oder Blau zu unterscheiden.

Wie die Autorinnen und Autoren schreiben, habe der Mann schon nach der Einnahme von einer einzigen Dosis Magic Mushrooms einen Effekt auf seine Fehlsichtigkeit feststellen können. Um diesen zu dokumentieren, hatte sich der Mann eines sogenannten Ishihara-Tests unterzogen. Der Test, der häufig zur Beurteilung von Farbenblindheit eingesetzt wird, besteht aus einer Reihe von Mosaiken aus farbigen Punkten, in denen sich anders schattierte Zahlen oder Buchstaben verbergen. Für Unbeeinträchtigte ist es ein Leichtes, diese Zeichen zu erkennen, Rot-Grün-Blinde tun sich dagegen schwer damit.

Tafel 23 des Ishihara-Tests. Wer an der Rot-Grün-Sehschwäche Protanopie leidet, wird die "2" nicht sehen, bei Deuteranopie bleibt die "4" unsichtbar.
Grafik: Ishihara Shinobu

Bleibende Verbesserung

Unmittelbar vor der Einnahme einer Dosis Psilocybin kam der Mann bei dem Ishihara-Test auf einen Wert von 14. Normalerweise gilt ein Wert von 17 oder höher als gesundes Farbsehen, ein Score von 13 oder weniger dagegen als erwiesene Farbsehschwäche (CVD). Das Ergebnis von 14 liegt also im Grenzbereich; zuvor war dem Mann aber auch bei einem Optiker schon eine Rot-Grün-Farbenblindheit diagnostiziert worden. Nachdem die Testperson getrocknete Magic Mushrooms zu sich genommen hatte und die psychedelischen Effekte wieder abgeklungen waren, lieferte eine erneute Durchführung des Ishihara-Tests nach 12 Stunden einen Score von 15.

Als der Mann den Test nach 24 Stunden wiederholte, erreichte er einen Wert von 18, was jenseits der Grenze für normales Farbsehen liegt. Acht Tage nach der Pilzeinnahme erreichte der Mann schließlich sogar einen Wert 19. Ein weiterer Ishihara-Test vier Monate später ergab wieder 18, und als das Forschungsteam ihn bei dem Mann ein Jahr später einen neuerlichen Test durchführten, erreichte er immer noch einen Wert von 16. Das liegt zwar unter dem Schwellenwert für normales Sehen, ist aber deutlich höher als der Ausgangswert von 14.

Unzuverlässig, aber bemerkenswert

Die Wissenschafter räumen ein, dass viele Faktoren dieser Fallstudie – etwa dass der Mann die Ishihara-Tests selbst durchgeführt hat – die Zuverlässigkeit der Daten infrage stellen. Dennoch seien die Ergebnisse bemerkenswert, so Barnett. "Vor allem, dass eine einmalige Einnahme von Psilocybin zu einer teilweisen Verbesserung der CVD führen kann, die über den Zeitraum der akuten Wirkung hinausgeht." Interessant sei auch gewesen, dass der Proband nie eine perfekte Punktzahl im Test erreichte. "Dies steht im Einklang mit seiner wahrscheinlich genetisch bedingten CVD und der Erwartung, dass Psilocybin keine DNA-Veränderung hervorrufen würde", so die Forschenden.

Welcher neuronale Mechanismus zur Verbesserung der Rot-Grün-Blindheit geführt hat, stellt das Forschungsteam noch vor ein Rätsel – allerdings hat es eine Theorie: Es könnte sein, dass die psychedelische Substanz zu Veränderungen bei der visuellen Verarbeitung auf höherer Ebene geführt hat, wahrscheinlich innerhalb der V4-Region des Gehirns, die für die Farbwahrnehmung von zentraler Bedeutung ist. Fundierte Aussagen auf Grundlage eines einzigen Falles seien freilich kaum möglich.

Daher forderten die Wissenschafter weitere Studien zur Rolle von Psychedelika bei der Behandlung von Farbenblindheit: "Eine systematische Erforschung dieses möglichen Phänomens ist notwendig, um unsere Ergebnisse zu bestätigen, ihre Verallgemeinerbarkeit zu beurteilen und den Wirkmechanismus dahinter zu bestimmen." (tberg, 5.5.2023)