An der Aurinkolahti School in Helsinki werden wie an allen finnischen Gesamtschulen Kinder im Alter von sechs bis 15 unterrichtet.

Foto: Elisa Tomaselli

Die Lehrerin greift morgens um neun Uhr zum Mikrofon, und ihre Stimme ertönt im ganzen Schulgebäude. Im Hintergrund wird eingängiger finnischer Pop gespielt. Sie blickt hinunter auf eine leere Aula und eine große Bühne. Was bei Besucherinnen der Aurinkolahti Comprehensive School in Helsinki vor allem Fragen aufwirft, ist für die Schulkinder völlig normal.

Solche Ansprachen von Lehrern oder Schülerinnen gehören zur Morgenroutine, erzählt die Englischlehrerin Anne Eerikäinen. Heute wurde etwa an die finalen Tests erinnert. Für viele der 932 Schulkinder werden es die letzten Tests an dieser Schule sein. Ihnen steht eine Zäsur bevor: Mit 15 Jahren erleben manche den ersten Schulwechsel seit ihrer Einschulung.

Nördlicher Vorreiter

Finnland gilt seit langem als Bildungsvorreiter. Seit 1977 gibt es hier die Gesamtschule. Die besten Pisa-Ergebnisse, die größten Bildungsinnovationen und rundum zufriedene Lehrkräfte und Schulkinder. Dieses vorherrschende Bild lässt viele neidisch auf das Land im Norden Europas blicken. Finnland lässt sich das auch einiges kosten: 5,2 Prozent des BIP wandern ins Schulsystem – in Österreich sind es 4,6 Prozent. Bei den Ausgaben pro Schulkind hat jedoch Österreich die Nase vorn.

Und doch könnte die Realität an Österreichs Schulen angesichts von Lehrermangel und überbordender Bürokratie nicht weiter von der finnischen entfernt sein. Von dieser wollte sich Wiens Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) diese Woche mit einer mitgereisten Bildungsdelegation selbst ein Bild machen; und sich in Sachen Bildungsinnovationen "inspirieren lassen".

Verantwortung für die Schule

Diese Suche nach Inspiration führt in die Helsinki-Schule, wo fünf Jugendliche gerade einen Kabelsalat entflechten. Für das Sommerfest sind sie als Freiwillige für den Sound verantwortlich. Wo das Kabel für das Piano hingehöre, wie die Lautstärke reguliert werde, all das habe er in der Technologieklasse gelernt, erzählt ein 15-Jähriger. Neben diesem Schwerpunkt, der die Schule beliebt macht, wird auch schnell der finnische Zugang zu Bildung begreiflicher. Schülerinnen erzählen von Kochkursen, die zugleich Chemieunterricht sind, oder von Handwerksklassen, in denen die kaputten Schuhregale der Schule repariert werden.

Verantwortung, Empowerment, Partizipation: Darauf zielen die im nationalen Curriculum vorgegebenen Kompetenzen für Schüler ab. Dazu gehört auch, dass der kulturellen Kompetenz und der mentalen Gesundheit viel Platz eingeräumt wird, erklärt Eerikäinen. Pro Schulstandort gebe es dort eine Sozialarbeiterin und eine "Guidance Counselor", die die Schülerinnen und Schüler beim weiteren Bildungsweg berät.

Lehrkräfte mit Spielraum

Welche Rolle spielen hier aber die Lehrkräfte? Sie genießen dank Schulautonomie viel Freiheit in der Unterrichtsgestaltung. Im Vergleich zu Österreich hat ihre Stimme viel Gewicht: Lehrerinnen sind sogar in politische Entscheidungsprozesse eingebunden. Ein Umstand, der dem Beruf viel Anerkennung verschafft und zu einem Run auf Unis führt. "Alle, die in Wien Lehramt studieren wollen, werden auch aufgenommen?", fragt Lehrerin Eerikäinen etwas ungläubig. In Finnland wird nur eine von zehn Bewerberinnen für das Studium zugelassen.

Die Aula der Aurinkolahti Comprehensive School in Helsinki.
Foto: Elisa Tomaselli

Doch auch durch ein vermeintlich perfektes Bildungssystem ziehen sich kleine Risse: Eine Lehrerin beklagt die Klassengröße. Mit 26 Schülern sei der Unterricht schwieriger geworden. Eine weitere Lehrerin anzustellen, dürfte das Schulbudget nicht hergeben. Eine dringende Sanierung steht nämlich an, erklärt die Direktorin, die allein das Acht-Millionen-Euro-Budget hütet und davon Lehrkräfte, Miete, Materialien und Geräte bezahlt. Was den Job aktuell erschwere, sei aber auch das Plus an administrativen Aufgaben, berichtet Eerikäinen, ein starker Druck auf Lehrerinnen und Lehrer sei die Folge.

Helsinki fördert Bildungs-Start-ups

Lösungen dafür könnten womöglich im Education Hub Helsinki gefunden werden. Hier fördert die Stadt bereits jetzt ausgewählte Projekte, die Innovationen für den Unterricht versprechen. Ein Start-up, das dadurch entstanden ist, hat etwa für den Bereich der mentalen Gesundheit einen Bot entwickelt, mit dem Schüler chatten können. Bei starken psychischen Problemen schlägt dieser, sofern die Schüler eingewilligt haben, bei den Lehrkräften Alarm. An manchen Schulen kommt er bereits zum Einsatz.

Ein Zentrum für Bildungsinnovation schwebt Wiederkehr auch für Wien vor. "Es ist wichtig, dass Schulen von Vereinen und Initiativen profitieren." Aktuell hänge dies noch vom Geld der Standorte ab. Eine mit vier Millionen Euro geförderte "Wiener Bildungsinitiative" ab Herbst 2023 soll diesem Umstand entgegenwirken – und gleichzeitig Lehrkräfte entlasten.

Mit Blick auf große Reformen gibt sich Wiederkehr jedoch pragmatisch: Die Gesamtschulfrage sei in den vergangenen Jahrzehnten ideologisch eingefahren. Freie Schulwahl ohne Schulgeld und eine radikale Schulautonomie, wie sie Finnland habe, könnte aber laut Wiederkehr ein Ausweg aus dem Dilemma sein. Hier sei Finnland für ihn ein klares Vorbild. (Elisa Tomaselli, 5.5.2023)