Eine Szene aus dem inkriminierten musikalischen Dokudrama "Finist – Heller Falke".

Foto: Soso Daughters

Mit den Festnahmen der bekannten Theaterregisseurin Schenja Berkowitsch und der Dramatikerin Swetlana Petrijtschuk am Donnerstag hat der Kampf des Putin-Regimes gegen zeitgenössische Kultur eine neue Qualität erreicht. Als Ausgangspunkt der Ermittlungen fungiert laut vorliegenden Informationen das Theaterstück Finist – Heller Falke, das 2020 Premiere feierte und beim wichtigsten russischen Theaterfestival Goldene Maske 2022 als bester Text ausgezeichnet wurde.

Berkowitsch und Petrijtschuk wird "öffentliche Rechtfertigung von Terrorismus" vorgeworfen, es drohen bis zu sieben Jahre Haft. Ein Moskauer Bezirksgericht verhängte am Freitagnachmittag Untersuchungshaft für Berkowitsch, berichtete das Internetmedium Mediasona. Die Entscheidung bei Petrijtschuk stand zunächst noch aus.

Das inkriminierte Theaterstück ist nach einem Märchen über das alte Russland benannt. Es handelt von russischen Frauen, die zum Islam konvertieren wollen und von einem streng islamistischen Bräutigam in Syrien träumen. Als Textgrundlage fungierten unter anderem Vernehmungsprotokolle zu einem prominenten Gerichtsfall einer Moskauer Studentin, die 2016 wegen einer geplanten Beteiligung am terroristischen "Islamischen Staat" zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.

Maßgebliche Stimme des humanistischen Russlands

Im ausschließlich mit Frauen besetzten und durchaus feministisch motivierten Stück kommen freilich keine Terroristen vor, und der Regisseurin mit jüdischen Wurzeln sind absolut keine Affinitäten zu Islamismus oder Gewalt nachzusagen. Die 38-jährige Berkowitsch ist jedoch eine der wenigen herausragenden Theaterregisseurinnen ihrer Generation, die nach dem 24. Februar 2022 nicht ins Exil gingen und trotz allem versuchten, in der kriegführenden Heimat weiterhin zeitgenössisches Theater zu machen.

Abgesehen von einem Offspace hinter dem Kursker Bahnhof von Moskau ist sie im oligarchischen Kunsttempel GES-2 tätig, wo sie mit Hörbehinderten arbeitet. Als hochtalentierte Lyrikerin avancierte sie zuletzt aber vor allem auch zu einer maßgeblichen Stimme jenes humanistischen Russlands, das Wladimir Putin sukzessive zerstören lässt. Ein Gedicht in freiem Vers, das eindrücklich den politischen Missbrauch der Geschichte des Zweiten Weltkriegs anprangerte und gegen die offizielle Feier des "Tags des Sieges" über Nazideutschland am 9. Mai polemisierte, sorgte vergangenes Jahr für Aufruhr.

Dahinter dürfte der Inlandsgeheimdienst FSB stecken

Dass die Autorin nun ausgerechnet wenige Tage vor diesem Großkampftag des russischen Siegeskults festgenommen wurde, mag ein Zufall sein – muss es aber nicht: Im Weltbild sowjetisch geprägter Geheimdienstler spielen Feiertage eine wichtige Rolle. Die russischen Behörden – formal ist für dieses Delikt das Ermittlungskomitee zuständig, lebensnah ist jedoch eine maßgebliche Rolle des Inlandsgeheimdienstes FSB – scheuten am Donnerstag keine Mühen. Abgesehen von den zwei Festnahmen in Moskau wurde zumindest ein Theaterproduzent als Zeuge einvernommen und gab es in Sankt Petersburg Hausdurchsuchungen bei Berkowitschs Mutter Jelena Efross sowie ihrer 88-jährigen Großmutter, der Schriftstellerin Nina Katerli.

Letztere beschreibt in ihren Memoiren, wie sie sich in der späten Sowjetunion gegen die ideologische Kontrolle des KGB zur Wehr setzte. Die Vorgänge mit der Enkelin erinnern freilich eher an die Stalin-Zeit: Damals – so ein bekannter Sager – konnte für jeden Menschen ein geeigneter Paragraf des Strafrechts gefunden werden.

Auch Moskauer Theaterfestival dürfte eine Zielscheibe sein

Während der Ausgang dieses wichtigsten russischen Theaterfalls seit der Strafverfolgung von Regisseur Kirill Serebrennikow – er unterstützte Berkowitsch zu Beginn ihrer Karriere – offen bleibt, mutmaßen Insider über einen größeren Hintergrund. Die Regisseurin sei wohl nicht das Hauptziel, sagte am Donnerstagabend die im Exil lebende künftige Schauspielchefin der Salzburger Festspiele, Marina Davydova, dem STANDARD. "Ich habe den Verdacht, dass alles dafür konzipiert wurde, um die Goldene Maske und ihre Leiterin Marija Rewjakina zu zerstören", erklärte sie. Das Moskauer Theaterfestival gilt als eine der letzten Bastionen eines bunten und beim Publikum auch äußerst erfolgreichen Theaters, das in den vergangenen Jahren in Russland immer mehr an Rand gedrängt worden ist. (Herwig G. Höller, 5.5.2023)