Der Gewinn des "Scudetto" lag in der Luft. Ein Unentschieden im Auswärtsspiel gegen Udinese am Donnerstagabend, das wussten die Tifosi, würde Neapel bereits fünf Runden vor Ende der Saison zum Gewinn des Meistertitels in der Serie A genügen. Und so pilgerten in fröhlicher Vorahnung 60.000 Fans ins Stadio Diego Armando Maradona, um die möglicherweise vorentscheidende und erlösende Partie im fast tausend Kilometer entfernten Friaul vor acht Großbildschirmen mitzuverfolgen.

Neapel feierte die Meisterschaft, als gäbe es kein Morgen.
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Und das erhoffte Unentschieden wurde Realität: In der 52. Minute glich der beste Stürmer der SSC Napoli, der Nigerianer Victor Osimhen, den Führungstreffer der Gastgeber aus – es sollte beim 1:1 bleiben.

Victor Osimhen schoss Neapel zum Titel.
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Was danach in Neapel los war, lässt sich kaum beschreiben: Die Stadt explodierte förmlich vor Freude. Der Golf von Neapel wurde von bunten Feuerwerkskörpern taghell erleuchtet, durch die Gassen der Stadt zogen Hunderttausende von ausgelassenen Fans, zu Fuß, in Autokorsos, unter dem ohrenbetäubenden Lärm von Knallpetarden und Autohupen. Im Stadion wurden neapolitanische Volkslieder angestimmt, am Lungomare Caracciolo sprangen einige "Ragazzi" ins immer noch empfindlich kalte Meer.

Es kam auch zu schwerwiegenden Zwischenfällen: Ein Mann wurde, offenbar durch eine Schusswaffe, tödlich verletzt. Ob absichtlich oder aus Versehen, wird von der Polizei abgeklärt. In Udine ist ein Napolifan mit Wohnsitz in Österreich vor der Rückreise gegen vier Uhr im Bereich des Bahnhofs an einem Herzinfarkt gestorben.

Die Feiern in Neapel dauerten bis in die frühen Morgenstunden, obwohl die große Party zum Saisonende am 4. Juni erst bevorsteht. Dass buchstäblich die ganze Stadt in einen stundenlangen, ausgelassenen Freudentaumel ausbrach, hat auch damit zu tun, dass Neapel als einzige große italienische Stadt nur einen Verein hat. In Mailand, Turin und Rom sind es jeweils zwei, mit untereinander verfeindeten Fans. "Hier gibt es nicht, wie anderswo, eine Fangemeinschaft, die leidet und neidisch ist, wenn die anderen gewinnen", sagt der neapolitanische Schriftsteller Maurizio de Giovanni.

Feiern bis in die frühen Morgenstunden.

In Neapel gebe es dagegen eine zwar heterogene und ungeordnete, aber geeinte "Tifoseria", die sich in den Momenten der Freude, des Leidens, des Triumphes in einem einzigen Verein wieder erkenne. "Fan der SSC Napoli zu sein, bedeutet auch, auf starrsinnige und mitunter selbstbeschädigende Weise Fan von dieser Stadt und von diesem Territorium zu sein", betont de Giovanni.

Der Süden ist zurück.
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Tatsächlich hat der "Calcio" in Neapel neben der sportlichen immer auch eine psychologische und politische Bedeutung. Ein Meistertitel in der Serie A ist immer auch eine Revanche des armen, wirtschaftlich rückständigen Südens gegen den sieggewohnten, arroganten Norden. Juventus Turin und die beiden Mailänder Vereine AC und Inter machen den "Scudetto" in der Regel unter sich aus. Der letzte Klub, der diese Phalanx aufbrechen konnte, war die AS Roma in der Saison 2000/2001 gewesen.

Unsäglicher Spruch

Als Neapel im Jahr 1990 zum letzten Mal den Titel holte, verspotteten die norditalienischen Tifosi die Mannschaft als "afrikanischen Meister". Das hat man in Neapel nicht vergessen. Auch nicht, dass Lega-Chef und AC-Milan-Fan Matteo Salvini vor einigen Jahren gesagt hatte, dass er hoffe, der Vesuv möge das Problem mit den Süditalienern irgendwann auf seine Weise erledigen. Der unsägliche Spruch hat in den Fankurven das Stadions von Juventus und im Mailänder San Siro wieder Hochkonjunktur.

Der erste Scudetto seit 33 Jahren will gefeiert werden.
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Die bisher einzigen Meisterpokale hatte die SSC Napoli 1987 und 1990 gewonnen – mit Superstar Diego Armando Maradona. Doch mit dem Neapel der Achtziger- und Neunzigerjahre hat das Neapel von heute aber nur noch wenig gemein – das gilt sowohl für die Stadt selber als auch für den Fußballverein. Die Stadt hat in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Renaissance erlebt. Quartiere wie Forcella oder das spanische Viertel, die noch bis vor Kurzem als Hochburgen der Camorra galten, sind zu beliebten Zielen von unzähligen Touristen geworden.

Zugleich entwickelt sich Neapel immer mehr zur inoffiziellen Kulturhauptstadt Italiens. Das lässt sich daran ablesen, dass keine andere italienische Stadt öfter als Filmkulisse für nationale und internationale Produktionen gewählt wird – und das durchaus nicht nur für Mafia-Filme. "Heute haben wir ein Neapel mit hohem Wachstum, eine glückliche Stadt, die ihre Rolle in der Welt spielen will", sagte Bürgermeister Gaetano Manfredi nach dem Gewinn des Meistertitels.

Diego Armando Maradona ist in Neapel allgegenwärtig.
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Auch der "Scudetto" von 2023 kann nicht mit denjenigen von 1987 und 1990 verglichen werden. Maradona hatte seinerzeit die Mannschaft praktisch im Alleingang zu den beiden Titeln geschossen – bei dem heutigen Team hat Meistertrainer Luciano Spalletti dagegen ganz aufs Kollektiv gesetzt.

Und während die SSC Neapel nach Maradonas nicht sehr rühmlichem Abgang pleite gegangen war und in die Serie C abstürzte, hat der heutige Vereinspräsident, der Römer Filmproduzent Aurelio De Laurentiis, in den knapp zwanzig Jahren an der Spitze des Vereins die Bilanzen saniert, die Gehälter gekürzt und auf teure Starspieler verzichtet – während die hochnäsige und selbstgerechte norditalienische Konkurrenz, allen voran Rekordmeister Juventus Turin, Schlagzeilen mit überteuerten Transfers und wüsten Bilanzmanipulationen macht.

Dank der soliden Buchhaltung und der zurückhaltenden Transferpolitik des Präsidenten kann man den heutigen "Scudetto" der SSC Napoli als den wohl nachhaltigsten der jüngeren Geschichte der Serie A bezeichnen. Das entspricht so gar nicht den Vorurteilen und den Klischees gegenüber der Stadt – aber für die Tifosi macht dies den Titel nur noch schöner. (Dominik Straub, 5.5.2023)