Eine Teppichweberin in der afghanischen Hauptstadt Kabul im März. Frauen in Afghanistan werden in ihren Rechten immer mehr eingeschränkt.

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Maryam* hätte eigentlich noch zwei Jahre Schule vor sich. Doch seit vergangenem Jahr darf die 16-Jährige nicht mehr zum Unterricht. Ihr Alltag in Nordafghanistan, wo sie mit ihrem Vater und ihrem jüngeren Bruder zusammenlebt, besteht nur mehr aus Hausarbeit.

Die derzeitige Situation sei "beunruhigend und beängstigend", sagt sie dem STANDARD am Telefon. "Wir sind hoffnungslos, weil wir die Schule und damit unsere Zukunft verloren haben."

Die radikalislamischen Taliban konnten die Kontrolle über Afghanistan nach dem teils chaotischen Abzug der USA im August 2021 zum zweiten Mal erlangen, wodurch sich die Lage für Frauen und Mädchen massiv verschlechterte. Sie sind nun unter anderem stark in ihrem Recht auf Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Mädchen ab der sechsten Klasse (ab dem zwölften Lebensjahr) dürfen nicht mehr zur Schule gehen, Studentinnen sind von privaten und öffentlichen Universitäten ausgeschlossen. In Kabul ist Frauen seit November sogar der Besuch öffentlicher Parks, Freizeitparks und Fitnessstudios untersagt.

Ende vergangenen Jahres wies das Wirtschaftsministerium zudem Nichtregierungsorganisationen an, weibliche Angestellte bis auf weiteres nicht mehr zu beschäftigen. Auch Unternehmerinnen in mehreren afghanischen Provinzen wurde angeordnet, ihre Geschäfte zu schließen. Amnesty International zufolge ist Frauen nur noch in wenigen Ausnahmefällen die Ausübung ihrer Arbeit erlaubt, etwa im Gesundheitswesen.

Geheimer Unterricht

"Afghaninnen wurden im Grunde all ihre grundlegenden Menschenrechte genommen", sagt Tahmina Salik, Leiterin des Danish-Afghan Women Diaspora Forum (DAKDIF), im STANDARD-Interview. "Jeden Tag verschlechtert sich die Situation, und es kommen weitere Einschränkungen. Und jeden Tag fühlen sie sich isolierter und alleingelassen." DAKDIF unterstützt Salik zufolge Afghaninnen vor Ort, etwa mit finanziellen Mitteln für Material in geheimen Schulen. Dabei handelt es sich meist nur um die Initiative von Einzelpersonen, die einen Raum im eigenen Zuhause zum Klassenzimmer umfunktionieren. "Es ist sehr riskant. Wenn die Taliban es herausfinden, wird es Konsequenzen haben", sagt Salik. Oft seien es nur zwei oder drei Stunden am Tag, "das kann in keiner Weise eine richtige Schule ersetzen", gibt Salik zu. "Aber es ist ein Versuch, etwas zu tun. So können die Schülerinnen ihre Hoffnung am Leben halten und mit dem Unterricht verbunden bleiben."

Die Zahl geheimer Schulen nimmt Salik zufolge zu, aber auch die Strafen, die die Taliban deshalb verhängen. Sie würden alles unternehmen, "um Frauen aus der Öffentlichkeit zu verbannen". Damit gebe es eigentlich kaum einen Unterschied zu jenen Taliban, die in den 1990er-Jahren in Afghanistan an die Macht gekommen sind. Nur eine Sache habe sich Salik zufolge geändert: Die heutigen Taliban seien besser darin, zu lügen, sich selbst zu vertreten und Lobbyarbeit zu leisten. "Wir haben im Westen so viel Zeit damit verschwendet, über eine bessere Version der Taliban zu diskutieren. Weil sie wussten, was sie sagen müssen, und versprochen haben, dass sie Frauen tatsächlich viele Dinge erlauben werden – was sie dann nicht getan haben."

Wirtschaftliche Notlage

Viele Familien geraten ohne Einkommen der Frauen in finanzielle Nöte, während im Land ohnehin bereits eine Wirtschaftskrise herrscht, verstärkt durch Sanktionen gegen die Taliban. UN-Angaben zufolge erlebt Afghanistan derzeit die größte humanitäre Krise weltweit. Drei Viertel der afghanischen Bevölkerung sind für ihr Überleben von humanitärer Hilfe abhängig. Der Vater der 16-jährigen Maryam ist bereits über 80 Jahre alt, leidet unter einer Sehbehinderung und kann deshalb nicht arbeiten. Das wenige Geld, das Maryam, ihr Vater und ihr Bruder derzeit zum Überleben haben, bekommen sie von einer befreundeten Familie in Wien, die sich seit Monaten darum bemüht, die Kinder nach Österreich zu holen. Bisher konnte allerdings keine Aufnahmefamilie gefunden werden. Sollte sich an der Situation nichts ändern, "wird es dazu führen, dass ich verheiratet werde", befürchtet Maryam. Das will sie aber "auf keinen Fall".

Taliban-Kämpfer, die vor 2021 jahrelang in den Bergen im Einsatz waren, haben nun den Eindruck, ihnen stehe Frau und Familie zu, erzählt Tahmina Salik. Die Zahl der Zwangsverheiratungen steigt, auch die finanzielle Notlage vieler Familien sei ein Grund dafür. Außerdem gebe es keine Möglichkeiten für Betroffene mehr, Zuflucht vor Gewalt, etwa in Safe Houses, zu finden.

Viele Hilfsorganisationen haben ihre Arbeit im Land zumindest zeitweise eingestellt, nachdem die Taliban Afghaninnen untersagt hatten, bei NGOs zu arbeiten. Auch die Vereinten Nationen hatten vor einem Monat angekündigt, ihre Unterstützungsmission in Afghanistan zu überprüfen. "Sie senden gemischte Signale", sagt Salik dazu. Denn nur wenig später hat sich die stellvertretende UN-Generalsekretärin Amina Mohammed in Richtung einer möglichen Anerkennung der Taliban geäußert und dies als einziges "Druckmittel" bezeichnet. Diese Woche haben die UN nun verkündet, vorerst in Afghanistan zu bleiben. "Humanitäre Hilfe ist ein fragiler Rettungsanker für Millionen Afghanen", sagte UN-Generalsekretär António Guterres in Doha.

NGOs zwischen den Stühlen

Salik, die vergangene Woche auf Einladung des VIDC in Wien war, spricht von "einer sehr schwierigen Frage", die sich Hilfsorganisationen stellen müssten. Die Präsenz von NGOs sei notwendig, weil das afghanische Volk Hilfe und Unterstützung brauche. Aber ein tatsächlicher Boykott würde großen Druck auf die Taliban ausüben. "Wir brauchen eine rote Linie", glaubt Salik, innerhalb der Taliban gebe es bereits Konflikte. Die Differenzen könnten sich mit Druck aus dem Westen womöglich verstärken. "Meine Hoffnung ist, dass sich die Konflikte in einem Ausmaß erhöhen, dass sie sich selbst eliminieren."

Das Engagement des Westens in Afghanistan sei "dramatisch gescheitert", sagt Salik, die in Kabul geboren wurde und als Kind mit ihrer Familie nach Dänemark geflüchtet ist. Die Taliban sollten bekämpft, und es sollte sichergestellt werden, dass das Land nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. "Heute ist Afghanistan wieder in den Händen der Taliban und erneut eine Brutstätte für Terrorgruppen."

Online-Protest

Kurz nach der Machtübernahme der Taliban hätten noch viele Frauen auf der Straße demonstriert, erzählt Salik, die zuletzt vergangenes Jahr in Kabul war und täglich Kontakt zu Aktivistinnen und Aktivisten im Land hat. Doch mit Einschüchterungen, Haft und Folter sei es den Taliban gelungen, sie aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Mittlerweile findet viel Protest und Aktivismus online statt, in Whatsapp- oder Signal-Gruppen sowie sozialen Medien. Zu Hause formulieren sie Slogans oder nehmen Videos auf, die sie dann online stellen. Unter Hashtags wie "AfghanWomen" oder "AfghanDiaspora" teilen sie Informationen und schaffen Bewusstsein für die Lage im Land.

"Es ist unsere Pflicht und Verantwortung, afghanischen Frauen zur Seite zu stehen", sagt Salik. Sie plädiert dafür, zumindest jene Frauen und Kinder, die einem hohen Risiko ausgesetzt sind, außer Landes in Sicherheit zu bringen und Stipendienprogramme für junge Afghaninnen einzurichten, damit sie eine Ausbildung machen können. Politikerinnen und Politiker müssten sich zugleich dafür einsetzen, "Afghanistan auf der Tagesordnung zu halten und das Kapitel nicht zu schließen". Maryam hofft, irgendwann wieder zur Schule gehen und studieren zu dürfen. Ihr Traum, noch vor der Machtübernahme der Taliban, war, Anwältin zu werden. (Noura Maan, 7.5.2023)