Rechtsextremismusforscher Bernhard Weidinger warnt in seinem Gastkommentar davor, die Bedrohung durch die FPÖ zu überzeichnen.

Ist die rechte Machtergreifung unausweichlich?", fragt Hans Rauscher im STANDARD vom 2. Mai – und entwirft ein düsteres Szenario einer weiteren freiheitlichen Regierungsbeteiligung oder gar erstmaligen Kanzlerschaft. Herbert Kickl geriere sich als "autoritäre[r] Herrscher" in spe, "der sich nicht um demokratische Institutionen kümmern […] und Oppositionelle verfolgen will". Kickl plane, "jede Abweichung von der Bierzelt-Norm [zu] verbieten und verfolgen" und Österreich "zu einer üblen Scheindemokratie" umzubauen. Dabei befleißige er sich einer "radikalen Rhetorik, die manche an Goebbels erinnert".

Herbert Kickl – Kanzler in spe? Landtagswahlen beflügeln die Debatte, was bei einem FPÖ-Erfolg im Bund möglich wäre.
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Rauscher hat zweifellos recht, die Bedrohung der liberalen Demokratie von innen zu betonen, den Blick also von marginalen Akteuren auf jene zu richten, die Demokratie über deren eigene Einrichtungen zu unterminieren trachten, anstatt sie frontal zu attackieren. Wie schnell die FPÖ nach Ibiza vom Paria zur heißen Kandidatin auf eine neuerliche Regierungsbeteiligung avancierte, ist in der Tat atemberaubend. Und dass sie sich diesen Status diesmal nicht mit Mäßigung erkaufen musste, sondern er ihr trotz der Fanatisierung unter Kickl, trotz des Schulterschlusses mit vorerwähnten marginalen Akteuren zuerkannt wurde, verblüfft.

Keine Willkür

Dennoch sollte eines nicht aus den Augen verloren werden: Kickl mag manche an Goebbels erinnern, aber er wird, wenn überhaupt, nicht mit der Wehrmacht im Rücken die "Macht ergreifen", sondern über freie und demokratische Wahlen. Er wird nicht in die Ruinen einer Kanzlerdiktatur einziehen, sondern in eine – bei allen strukturellen Defiziten und Strapazen der letzten Jahre – gefestigte Demokratie. Wie viel Widerstand ein Koalitionspartner seinen autoritären Anwandlungen entgegensetzt, wird sich gegebenenfalls weisen. Aber ob Kickl sich um demokratische Institutionen und rechtsstaatliche Verfahren kümmert, ist zum Glück nicht seinem Gutdünken überlassen. Er wird es müssen.

Wer von der Bierzelt-Norm abweicht, würde unter Kickl Schikanen zu gewärtigen haben. Weiße, cis- und heterosexuelle Männer mit österreichischem Pass, wie der Autor dieser Zeilen, kommentieren freiheitliche Regierungsszenarien daher auch aus einer privilegierten Position. Aber alles zu "verbieten und verfolgen", was Kickl zuwider ist, wird es für ihn nicht spielen. Viktor Orbáns Ungarn oder gar Wladimir Putins Russland mögen Fluchtpunkte seines politischen Projekts sein, aber beide entstanden auf dem Boden autoritärer Verheerungen – und auch nicht über Nacht.

Schrille Töne

Es ist fraglos wichtig zu warnen. Wenn Warnungen aber in zu schrillen Tönen erfolgen, sie die Kraftmeierei der "Gewaltmenschen" (Rauscher) mit ihrer realen Bedrohlichkeit und Kickl mit dem Schatten gleichsetzen, den er bei tiefstehender Sonne wirft, kann dies Gefühle der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins befördern – und anstelle der Aktivierung prodemokratischer Kräfte deren Lähmung.

Ja, es gibt "historische Situationen, in denen alles plötzlich kippt". Aber eine solche Situation steht Österreich nicht unmittelbar bevor. Das von Kickl angestrebte Orbánisierungs-Remake müsste zwar nicht bei null beginnen, würde aber, wie schon das Original, nicht in Form eines plötzlichen Umschlags erfolgen, sondern als Prozess, der sich gegen erhebliche Gegenkräfte durchzusetzen hätte. Wer es gut mit der liberalen Demokratie meint, wäre freilich gut beraten, schon jetzt das Möglichste zu tun, es auf dieses Kräftemessen nicht erst ankommen zu lassen. (Bernhard Weidinger, 6.5.2023)