Das Wildgehege von Casteller, nördlich von Trient, wird rund um die Uhr bewacht. Hinter den hohen Zäunen wartet JJ4 auf die gerichtliche Entscheidung, die über ihr Leben oder ihren Tod entscheiden wird. JJ4, auch Gaia genannt, ist 17 Jahre alt, über zwei Meter groß und über 100 Kilo schwer. Und sie ist gefährlich. Am 5. April hat die Bärin den 26-jährigen Andrea P. getötet. Der junge Italiener war zum Trainingslauf aufgebrochen, aber nie zurückgekehrt. In den frühen Morgenstunden des darauffolgenden Tages wurde seine Leiche gefunden. Sie wies Kratz- und Beißspuren auf. Ein paar Tage später bestätigte eine Genanalyse, dass Gaia für den Tod des Mannes verantwortlich ist. Eine große Suchaktion wurde eingeleitet. Am 18. April wurde Gaia eingefangen.

Das Wildgehege von Casteller, in dem JJ4 untergebracht ist, wird Tag und Nacht bewacht.
Florian Scheible

Vor den schweren Messingtoren in Casteller sitzen zwei Carabinieri im Auto. Ihr Hauptaugenmerk liege auf den Protestierenden, sagt einer von ihnen. Immer wieder finden sich Tierschützer vor dem Gehege ein. Auch anderswo sorgen sie mit Protestaktionen für Aufsehen. So versammelten sie sich vor dem Privathaus des Provinzpräsidenten, der unmittelbar nach der Attacke die Tötung der Bärin veranlassen wollte, oder färbten einen Brunnen in der Provinzhauptstadt blutrot. Am Mittwoch vergangener Woche ist die Lage ruhig. Dem Polizeibeamten scheint eine Abwechslung recht zu sein, er spricht schnell und viel. Es sei unmöglich, JJ4 zu sehen, auch er habe sie noch nie zu Gesicht bekommen.

Gericht entscheidet über Schicksal der Bärin

Am 25. Mai fällt die Entscheidung, ob JJ4 eingeschläfert oder in Gefangenschaft weiterleben wird. Die Initialen der Bärin stehen für die Namen ihrer Eltern, Jurka und Jose, die vor über zwanzig Jahren im Rahmen eines Wiederansiedlungsprojektes aus Slowenien geholt und ausgesetzt wurden. Nun muss ihre Tochter, die "Problembärin", vielleicht schon bald sterben. Tierschutzverbände klagten gegen die Verfügung des Provinzpräsidenten Maurizio Fugatti von der Lega. Mitte April hob das Trienter Verwaltungsgericht seine Verfügung auf. Vergangene Woche wiederholte sich das Spiel erneut: Fugatti verfügte, das Gericht hob die Verfügung auf.

In der Heimatgemeinde des getöteten jungen Mannes hängen Transparente und Plakate. Die Bewohnerinnen und Bewohner fordern Gerechtigkeit.
Florian Scheible

Obwohl Gaia nun hinter Gittern weilt, ist im Tal keine Ruhe eingekehrt. Kurvig schlängelt sich eine Straße durch das Val di Sole. Sie führt durch kleine, malerische Berggemeinden. Caldes, die Heimatgemeinde von Andrea P., ist eine davon. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben große Transparente an ihre Häuser und Scheunen gehängt: Sie fordern "Giustizia per Andrea", "Gerechtigkeit für Andrea". Doch was meinen sie damit?

Auf die Frage scheint es keine klare Antwort zu geben. Außer dass sich etwas ändern muss. "Es ist ein angekündigter Tod", schreibt die Mutter des Opfers in einem offenen Brief, wenige Tage nach dem Vorfall.

Die Angst vor dem Feind im Wald

Das Grab des jungen Mannes ist mit Blumen geschmückt: Vergissmeinnicht, Rosen, Orchideen. Das Foto, das am provisorischen Holzkreuz angebracht wurde, zeigt einen lächelnden Mann in Sportkleidung am Berg. In der Kirche haben Freundinnen und Bekannte eine große Wand mit Erinnerungen geschmückt: ein Boxhandschuh, Fotos, Briefe, ein Trikot.

Am 5. April bricht Andrea P. zum Trainingslauf in den Wäldern am Fuße des Monte Peller auf. Er kehrt nie zurück.
Florian Scheible

Hinter den Friedhofsmauern verschluckt der dichte Wald die wenigen Sonnenstrahlen. Irgendwo dort streifen die drei Babys von JJ4 umher, sie waren bei ihr, als P. auf einem Forstweg unweit der Zivilisation auf die Bärin traf. Mittlerweile sind ihre Nachkommen 16 Monate alt und damit überlebensfähig. Laut Behörde würden sie beobachtet, hätten aber keinen Chip.

Ein Volksschullehrer fürchtet sich, wenn er mit seiner Klasse zum Sportplatz geht. Die Stätte liegt am Waldrand.
Florian Scheible

"Unser Sportplatz liegt unmittelbar am Waldrand", erzählt ein Volksschullehrer. "Ich habe ein mulmiges Gefühl, wenn ich mit meiner Klasse dorthin gehe." "Wir gehen nicht mehr in den Wald", sagt eine Mutter, die ihre Tochter von der Schule abholt. Sie fühle sich dort nicht mehr sicher. Ähnliches hört man im Supermarkt und in der Bar. Den Menschen steckt die Angst in den Knochen, viele fühlen sich von den Behörden im Stich gelassen.

Haben die Behörden versagt?

"Das Management hat versagt", klagt Alessandro Fantelli. Fantelli ist Besitzer eines Naturerlebniszentrums in Ossana, einer Gemeinde, zwanzig Autominuten von Caldes entfernt. Seine Firma heißt Ursus Adventures, im Logo prangt der Umriss eines Bären. Einmal habe er einen aus der Ferne beobachten können, erzählt er. "Wunderschön" sei das gewesen. Als er jedoch beim E-Biken Geräusche vernommen habe, sei ihm ganz bang geworden.

Alessandro Fantelli betreibt ein Naturerlebniszentrum. Er hat es "Ursus Adventures" genannt. Fantelli ist fasziniert von Bären – und überzeugt, dass ein Zusammenleben möglich ist.
Florian Scheible

Fantelli ist überzeugt, dass ein friedliches Zusammenleben von Mensch und Bär möglich ist. Doch der Bevölkerung fehle ein "Instrument" für den Notfall. Ein Bärenabwehrspray etwa. Im Trentino setzt man sich schon seit Jahren dafür ein, dass ein solcher nicht mehr unter das Waffengesetz fällt. Bisher vergeblich. Außerdem bräuchte es mehr Information und Aufklärung über Bären.

Es darf nicht noch einmal geschehen

Der Mann, der wie kein anderer für den Bären im Trentino steht, heißt Claudio Groff. Manchmal sehne er sich nach der Zeit, in der er ganztags in der Wildnis unterwegs war, sagt er im Gespräch mit dem STANDARD. Heute arbeitet Groff viel am Schreibtisch, im Amt für Fauna der Autonomen Provinz Trient. Dort ist er für die Koordination des Bereichs Große Beutegreifer zuständig. Den Wald hat er sich in sein Büro geholt: Zwischen Kugelschreibern stecken imposante Federn, zwischen Büroklammern liegt ein Horn. Über die weißen Wände schleichen – fotografisch eingefangen und eingerahmt – zahlreiche Bären und ein Luchs. #

Claudio Groff ist der Koordinator für Große Beutegreifer im Trentino. Er gilt als ausgewiesener Bärenexperte.
Florian Scheible

"Wir müssen alles tun, damit eine solche Tragödie nicht noch einmal passiert", sagt Groff. Man sieht ihm an, dass die vergangenen Wochen nicht spurlos an ihm vorübergegangen sind, dass das Geschehene schwer auf seinen Schultern lastet.

Die brutal erfolgreiche Wiederansiedelung

Groff war dabei, als die Bären in der Region auszusterben drohten. 1999 wurde deshalb das auf acht Jahre angesetzte Projekt Life Ursus aus der Taufe gehoben – mit dem Ziel, in den Zentralalpen innerhalb weniger Jahrzehnte wieder einen Braunbärenbestand von mindestens 40 bis 60 adulten Individuen aufzubauen, der geschätzten Mindestzahl für eine vitale Bärenpopulation.

In den Wäldern des Val di Sole leben mittlerweile über 100 Bären.
Florian Scheible

Der Rückhalt aus der Bevölkerung war groß: 70 Prozent waren dafür. Bald aber kam es zu ersten Begegnungen, Schäden, Verletzungen. Mittlerweile hat sich die Stimmung gedreht. Heute zählt die Behörde über 100 Bären in der Region. Als die Umfrage 2011 wiederholt wurde, sprach sich eine Mehrheit gegen die gezielte Ansiedelung aus.

JJ4 war "amtsbekannt"

"Bären sind wie Menschen, sie haben eine eigene Persönlichkeit: Es gibt schüchterne Wesen und sehr selbstbewusste, die jegliche Menschenscheu verloren haben", sagt Groff. JJ4 machte schon vor Jahren Probleme. Als es zur Attacke kam, war die Bärin sozusagen bereits amtsbekannt. Im Juni 2020 griff sie einen 61-jährigen Jäger und dessen Sohn an und verletzte sie schwer. Bereits damals habe man sich eindringlich um eine möglichst rasche Entnahme der Bärin bemüht, betont Groff. Doch vergeblich: Ein negatives Gutachten des in Rom ansässigen Instituts für Umweltschutz und -forschung (Ispra) verhinderte dies.

Das Monitoring der Bären in der Region läuft seit 21 Jahren. Die Beobachtung läuft über Fotofallen und DNA-Analysen, einige Bären sind gechippt.
Florian Scheible

Nun ist ein Mensch gestorben. Und von der Ispra gibt es grünes Licht für die Entnahme des Pro¬blembären. "Möglich", dass der Tod zum Umdenken geführt hat, kommentiert Groff auf Nachfrage. Aus den Städten blicke man oft "realitätsfern" auf den Umgang mit großen Beutegreifern. Es sei oft "schwierig, eine Gesprächsbasis zu finden".

"Entnahme" problematischer Tiere

Die Entnahme problematischer Tiere ist rechtlich abgesichert und im Bärenmanagementplan der Region, an dem auch Groff mitwirkte, verankert. Darin ist genau definiert, ab wann ein Bär als gefährlich eingestuft wird. Weniger als fünf Prozent aller Bären gelten als gefährlich, dies zeigten Studien in unterschiedlichen Regionen Europas. Ihre Beobachtungen stimmten damit überein, sagt Groff. "Diese Problembären gehören sofort entnommen, ein Abschuss darf kein Tabu sein."

Provinzpräsident Fugatti ließ kürzlich mit der Forderung aufhorchen, die Hälfte aller Bären im Trentino erlegen zu wollen. Man müsse prüfen, "ob und wie dies umgesetzt werden könnte", kommentiert Groff diesen Vorstoß. Wichtiger als die schiere Menge sei allerdings, dass man die richtigen Bären erwische. (Maria Retter, 6.5.2023)