Luca Brecel ist tatsächlich nach Wien gekommen.

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Brecel mit Hilfsqueue.

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Der Snookerklub der 15 Reds in Wien-Neubau am Donnerstagabend.

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Der Snooker-Weltmeister ist ein kleiner Schwindler. Der Belgier Luca Brecel, der am Montag in Sheffield den WM-Titel holte, sagte wenige Momente nach seinem großen Triumph: "Ich werde für ein paar Wochen oder Monate nicht mehr trainieren. Kein Training, nur Partys." Zwei Tage später setzt er sich in seinem Wohnort Maasmechelen ins Auto. Natürlich ist Brecel nüchtern, so übermütig ist er durch den WM-Titel nicht geworden. Er fährt die ganze Nacht, am Donnerstagmorgen erreicht er sein Ziel: Wien.

Der 28-Jährige kam nicht zum Feiern, er war der absolute Starspieler der Vienna Snooker Open, die von Donnerstag bis Sonntag in Wien-Neubau stattgefunden haben. Die Veranstalter freuten sich einen Haxen aus, dass Brecel nur drei Tage nach seinem Sensationssieg in England tatsächlich erschienen ist. Die Zusage erfolgte schon vor einigen Wochen, und noch am Montag kündigte er sein Kommen in einem TV-Interview an. Ein paar Stunden später meldete er sich bei den Organisatoren und stellte eine knallharte Bedingung: Darf ich meine Freundin mitbringen?

Er durfte. Das Team der Vienna Snooker Open organisierte ihm eines der hübscheren Zimmer in einem Vier-Sterne-Hotel am Gürtel. Brecel fand das keineswegs selbstverständlich, vor lauter Freude lud er ein Video auf Instagram hoch und schrieb: "Das Hotelzimmer ist größer als mein ganzes Zuhause!"

Sturm auf die Startplätze

Zum ersten Mal spielte ein amtierender Snooker-Weltmeister in Österreich. Die Veranstalter fürchteten einen Ansturm. Noch am Donnerstag sagten sie dem STANDARD sinngemäß: "Bitte keine Werbung mehr machen!", Die Leute würden ihnen das Klublokal der "15Reds" in der Kirchengasse niederrennen. Auf der Homepage hieß es, der Zutritt könne für Fans nicht garantiert werden. Für Freitag organisierten sie einen Türsteher, der im feinen Zwirn samt Gilet und Schieberkappe darauf schaute, dass nicht zu viele Leute im Klub sind. Zu Brecels ersten Matches kamen gut 150 Zuschauerinnen und Zuschauer, mehr hatten auch nicht Platz.

Die Nennung zu den Vienna Snooker Open lief wie bei der Anmeldung für eine Lehrveranstaltung auf der Uni: Browser öffnen, ständig F5 drücken und zum Nennstart schnell sein. Nach wenigen Minuten waren die Startplätze vergeben. Für 75 Euro war man dabei. Die Organisatoren hielten Startplätze für insgesamt 16 Profis und namhafte Spieler zurück, erließen ihnen die Nenngebühr und übernahmen die Kosten für die Unterkunft. Für seinen WM-Titel erhielt Brecel 500.000 Pfund, der Sieger von Wien erhält immerhin 2.500 Euro. Insgesamt werden 10.000 Euro an Preisgeld ausgeschüttet. Insgesamt spielen 80 Personen mit, in der Gruppenphase ist ein Match gegen einen Star garantiert.

Die Pots des Lebens

Auch der Engländer Robert Milkins ist nach Wien gekommen. Er bestritt jenes WM-Match, das aufgrund eines Aktivisten der Gruppe Just Stop Oil verschoben werden musste. Ein Mann sprang auf den Tisch und streute Farbpulver über das grüne Tuch. Die Session wurde abgesagt, Milkins bestritt sein Match ein paar Tage später, verlor dann in der zweiten Runde. In Wien machte er seinen Gegnern nach gelungenen Stößen ernstgemeinte Komplimente, machte Selfies und führte Smalltalk.

Wer sind die Leute, die bei den Vienna Snooker Open mitspielen? Da ist etwa Andreas aus Würzburg, er hat Verbindungen nach Graz und nahm sich eine Auszeit von einem Job als Immobilienmanager, um am Turnier teilzunehmen. Oder Bernhard, Vereinsspieler in Wien, der in die Gruppe der Nummer drei des Turniers, Tom Ford, gelost wurde. Er war chancenlos, verlor 0:2, konnte nach der Partie aber nicht glücklicher sein. Denn Ford lag schon klar vorne, die Etikette des Sports sieht eigentlich vor, dass man den Frame in dem Fall aufgibt und dem Gegner gratuliert. "Ich habe ihn gefragt, ob ich weiterspielen darf", sagt Bernhard. "Mir sind drei herrliche Pots (Lochversuch, Anm.) in Folge gelungen. Plötzlich legt mir ein Tom Ford die Bälle auf!" Auf der Tribüne saßen ein Dutzend Leute und applaudierten. "Das war einfach ein geiles Gefühl."

Hobbyspieler bezahlen dafür, sich von Profis abschießen zu lassen und freuen sich wie Kinder über ein Twinni im Hochsommer. Das macht die Vienna Snooker Open aus. Wenige Minuten später spielte Ford in seinem nächsten Match ein Maximum Break von 147 Punkten.

Schummeln fürs Selbstvertrauen

Der beste Schweizer Snookerspieler, Alexander Ursenbacher, wurde in seinem zweiten Match vom Turnierdirektor ermahnt; er möge bitte sein Hemd in die Stoffhose stecken. Weste und Fliege, wie auf der Profitour üblicherweise vorgeschrieben, sind in Wien nicht Pflicht, manche Hobbyspieler haben sich trotzdem herausgeputzt. Nach der Ermahnung spielte Ursenbacher ein Break von 96 Punkten, das gelingt vielen Gelegenheitsspielern ein ganzes Leben lang nicht annähernd.

Deutschlands Nummer eins Lukas Kleckers erzählt, dass die Tische im Lokal in Wien vergleichsweise große Taschen haben. "Sonst kommt ja kein Mensch mehr, dann verlieren alle den Spaß am Snooker", sagt er. Profis seien es auch gewohnt, auf größere Taschen zu trainieren. "Da holst du dir Selbstvertrauen. Im Match siehst du dann einen ähnlichen Ball und traust ihn dir eher zu. Weil du ihn eben im Training etliche Male gelocht hast." Kleckers ist offiziell Profi, er zählt zu den besten 128 Spielern der Welt. Aktuell befindet er sich in der Halbzeit seiner zweijährigen Spielberechtigung auf der Profitour. Im Vergleich zu Zeiten vor Corona gebe es viel weniger Spitzenevents, das Turnier in Wien sei für ihn eine nette Abwechslung. Immerhin in der K.o.-Phase hätte es Wettkampfcharakter.

Stephen Hendry's Cue Tips

Die Suche nach der "cue action"

Was macht einen Profispieler aus? Sie haben das perfektioniert, was in der Szene "cue action" genannt wird. Das beschreibt den Touch, den sie mit dem Spielball, der weißen Kugel, herstellen können. Hobbyspieler spielen in der Regel viel zu grob, abgehackt und steif. Bei Profis scheint es, als ob sie die Laufrichtung der Weißen selbst nach dem Stoß noch steuern. Sie können häufig bis auf den Zentimeter kontrollieren, wo der Ball liegen bleibt. Es geht nicht allein darum, Bälle in die Taschen zu befördern, sondern auch darum, den Gegner in eine möglichst schwierige Position zu bringen und eigene Züge am Tisch so lange wie möglich fortzusetzen. Um zu einer ausgereiften "cue action" zu kommen, braucht es unzählige Wiederholungen der Stöße, Disziplin und Ausdauer. Dann wird das eigene Spiel vielfältiger, es werden quasi mehrere Arten von Stößen möglich.

Florian Nüßle, Österreichs Nummer eins, hat seine Gruppenpartien wie fast alle anderen Profis ohne Frameverlust überstanden. Ende Mai spielt er in der sogenannten Q-School um ein Ticket auf der World Snooker Tour, rund 200 Spieler streiten sich in England um acht Plätze. Es wird ein Gemetzel, sagt Nüßle.

Die Profis in Wien schauen ihren Kollegen auch in Pausen zu, sitzen abends bei Bier und Schinken-Käse-Toast beisammen und nehmen sich gegenseitig auf die Schaufel. Alle sind zugänglich, erzählen gerne über ihr Leben auf der Snooker-Tour oder von Spaziergängen durch den Naschmarkt.

Weltmeister Brecel blieb am Donnerstag bis in die Abendstunden. Er machte aber nicht Party, sondern trainierte – auf dem Caramboltisch. Am Samstag trat Brecel nicht mehr zu seinem Achtelfinale an. Er sei erkrankt, ließ er ausrichten. Der 21-jährige Nüßle holte sich am Sonntagabend den Titel, einen Heimsieg gegen den Deutschen Kleckers. (Lukas Zahrer, 7.5.2023)